Geschrieben nach der Realisierung des Films «Cinéma mort ou vif?», der sich anhand des Films «Jonas qui aura 25 ans en l'an 2000» von Alain Tanner mit dessen Anspruch und Praxis auseinandersetzt.
Film heute und Alain Tanners «Jonas»
(1978, Filmkollektiv intern).
Meine Einschätzung des Kinofilms heute.
In erster Linie geht es mir hier um die Form, in der Film im Kino stattfindet, um die Bedingungen, unter denen ein Film üblicherweise gesehen wird.
Ein Teil des Kino-Erlebnisses ergibt sich aus dem, was die Zuschauer davor erlebt haben und was sie danach üblicherweise erwartet, ein anderer grosser Teil ergibt sich aus den schon gemachten Kinoerfahrungen:
Die Kino-Erfahrungen bestimmen die Kino-Erwartungen und die Kino-Erwartungen bestimmen zu einem grossen Teil das Kino-Erlebnis.
Und was erwartet man? Gleiches, nur noch etwas besser, spannender, schöner, härter, künstlerischer, rührseliger, kritischer usw. - nichts grundsätzlich anderes, sondern eine Steigerung des schon bekannten.
Und: Man erwartet einen Spielfilm, wenn in der Werbung nicht besonders betont wurde, dass es sich um etwas anderes handelt. Wenn dieses andere ein Dokumentarfilm ist, dann ist dem Publikum klar, dass man nicht mit den gewohnten Kino-Erwartungen an die Sache herangehen kann, sondern (leiderleider) eher mit Fernseh-Erfahrungen.
Man geht an nichts vollkommen offen heran - jedes Erleben ist durch frühere Erlebnisse geprägt (entschuldigt die Banalität). Welche Erfahrungen bestimmen also die Zuschauer-Erwartung im Kino und damit die Weise, wie sie den nächsten Kinofilm ansehen?
Ich erwähne die Normen, die mir am wesentlichsten scheinen -(später die Ausnahmen von der Regel): Kapital und Arbeit bestimmen Form und Inhalt des Films, aber sie treten im Film nicht in Erscheinung, jedenfalls nicht als Macht, sondern höchstens um den Zuschauer zu beeindrucken: So viel Kapital! so viel Arbeit! so viel Technik!
Das Verstecken des Machens ist so selbstverständlich geworden, dass kein Techniker, Autor, Produzent überhaupt noch auf die Idee käme, dass da sorgfältig etwas versteckt wird (letztlich ökonomische Interessen, ein politischer Standpunkt). Eine Folge davon ist, dass sich der Kinogänger hinter einer Kinogeschichte schon nach zehn Minuten Handlung keinen Geschichten-Schreiber und schon gar keine Geschichten-Bearbeiter mehr vorstelle kann, denn die ganze Form zielt darauf ab, die Geschichte als etwas möglichst Wirkliches erscheinen zu lassen. Damit zusammen hängt auch das Erzeugen von Identifikationen - mit Einzelpersonen, einer Gruppe, einer Armee, einem Volk.
Alain Tanner sagte, Identifikation sei, wie wenn der Zuschauer zu Beginn des Films in die Haut einer handelnden Person schlüpfen würde und diese erst am Ende des Films wieder verlasse. In der Haut einer Person zu sein, ist sicher die beste Voraussetzung, um möglichst intensiv deren Gefühle mitzuerleben und um sich selbst zu vergessen.
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Jetzt könnte ich falsch verstanden werden. Ich wünsche mir nicht, dass möglichst alle Gefühle aus dem Kino verbannt werden. Auch das Verstehen von Zusammenhängen kann zu Freude oder Wut führen (und zu allen anderen vorstellbaren Gefühlen). Und zwar sehr intensiv, gerade weil der Zuschauer auch seine eigenen Lebensbedingungen darin erkennt, oder diejenigen von Menschen, die ihm nahe stehen. Wenn ein Film dies nicht leistet (wenn man den Kopf an der Garderobe abgeben kann – wenn man sich nicht als ganzer Mensch einen Film ansehen kann), wenn man dumpf mit-leidet, lebt, kämpft oder erduldet, dann kommt man nach dem Film aus dem Kino in einem Nebel hochgetriebener Emotionen – und wird dann von seiner Umgebung enttäuscht – von Freunden, Bekannten und vor allem von sich selbst, weil niemand ein solch hochkonzentriertes Leben führen kann. So folgt dem dumpfen Kinoerlebnis ein dumpfes Erleben seiner Umwelt, seiner Person – und statt besonders hellsichtig und hellhörig für seine Umwelt zu sein, fühlt man sich als ein anderer, ist entrückt und wenn man sich selbst, seine Welt wieder wahrzunehmen beginnt, scheint sie neben dem Kino-Erlebnis minderwertig. Also braucht man wieder Ablenkung, wünscht wieder in eine andere Haut schlüpfen zu können. Kino verspricht wieder ein solches Erlebnis.
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Es gibt Filme, deren Verbreitung man wichtig finden kann, weil sie eine bestimmte Thematik zur Darstellung bringen. Wenn sie dies aber mit den herkömmlichen Kino-Mitteln tun, sehe ich kaum einen gesellschaftlichen Nutzen in deren Vorführung, denn ich bin der Ansicht, dass die Form die Betrachtungsweise und damit das Filmerlebnis bestimmen (wie Brecht sagte, weil sich der Blick auf den Ausgang der Dinge, statt auf deren Gang richtet).
Es gibt aber auch Filme, deren Form über die Konventionen hinaus führen und dem Zuschauer eine aktive Betrachtungsweise, eine Auseinandersetzung erlauben sollen, z.B. wenn Alain Tanner in «Jonas» Kamerabewegungen einsetzt, die nicht einfach der Handlung folgen, sondern dieser vorgreifen, oder wenn die Personen Texte sagen, die kein Mensch so sagen würde, oder wenn sie diese Dialoge zu singen beginnen. Gerade an diesen Beispielen kann man leicht erkennen, wie wenig solch Unnatürliches (Gemachtes) zu erkennen ist. Für die meisten Zuschauer ist der Gesamtaufbau, die Identifikation mit den acht Personen oder mit einzelnen von ihnen so stark, dass sie über alle "Unstimmigkeiten" hinwegsehen (und sogar einen "MarieFanClub" gründen – mit entsprechender Frisur) (die Figur Marie gespielt von der bekannten französischen Schauspielerin Miou-Miou). Gerade die Tanner-Filme zeigen, wie viel Widerstand ein Film den Kino-Konventionen entgegensetzen müsste, damit auch eine Chance besteht, dass sich Zuschauer etwas von ihren Kino-Erwartungen lösen können, die sie jahrelang in Kino und am Fernsehen eingeübt haben.
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All das sind keine Argumente gegen Spielfilme und keine Argumente gegen das Kino, aber man muss sich darüber klar werden, dass ein Spielfilm unglaublich viel leisten muss, wenn er sich – innerhalb von 99% Normprodukten – einer Norm-Betrachtungsweise entziehen will.
Urs G.