Filmmontage:
analog/digital. Bildschirm/Leinwand.

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Filmmontage:
analog/digital. Bildschirm/Leinwand.

Filmmontage:
analog/digital. Bildschirm/Leinwand.

Zwei Auszüge aus dem Buch «Filmmontage» von Walter Murch,

2020 erweiterte Fassung (1. Fassung 1995).

www-alexander-verlag.com/programm/titel/72-ein lidschlag-ein-schnitt.html

Filmmontage: analog/digital.

Grundsätzliche Beobachtungen: der Zelluloid-Dschungel.

() Wenn die Zahlen (von Montage-Möglichkeiten) durch Berge – Tonnen - von Filmmaterial verkörpert werden, weiss man instinktiv, dass man von Anfang an einen Plan haben und gut organisiert sein muss. Vor einem Dickicht von 150'000 oder gar 300'000 Meter an Mustern zu stehen, ist, wie in den Dschungel des Amazonas zu blicken. Und wer würde sich in den ohne Landkarte und ausreichende Vorräte hineinwagen?

Eine der Gefahren bei den digitalen Systemen ist, dass sie den Dschungel in ein scheinbar folgenloses Videospiel verwandeln. Wenn man verliert, fängt man eben einfach noch einmal von vorn an. Den Film hat man ja in Wirklichkeit gar nicht angerührt! Es gibt auch keine losen Enden, die man wieder zusammenflicken muss.

In einem gewissen trivialen Sinn stimmt das, was jedoch nicht heisst, dass hinter dem virtuellen nicht auch der wirkliche Amazonas lauert, mit realen Konsequenzen, wenn man vom Weg abkommt. Sie müssen unter allen Umständen planen - es steht Ihnen ja nur eine begrenzte Zeit zur Verfügung. Niemals können Sie alle möglichen Versionen erkunden - Sie müssen immer eine Landkarte dabeihaben. Das Erinnerungsvermögen des Menschen hat Grenzen - Sie sollten sich von dem, was Sie gesehen haben, ausführliche Notizen machen.

Theseus brauchte seinen Faden, um aus dem Labyrinth des Minotaurus zu entkommen. Ohne Plan, ohne Landkarte und ohne einen solchen Faden verkommt die Arbeit des Cutters zum reinen Umsichschlagen, einem Zusammenklatschen von Bildern und Tönen des momentanen Effekts wegen. Aber Effekte dieser Art haben für den Film als Ganzes keine anhaltende Resonanz.

Ein versteckter Vorzug beim Schneiden des perforierten Films war daher paradoxerweise, dass gerade die Menge und das Gewicht des Materials den Cutter darin bestärkte, die Arbeit ernst zu nehmen, sie sorgfältig im Voraus zu planen, bevor er sich hineinstürzte - bestimmte Strategien und Abwehrmechanismen zu entwickeln. ()

Alle, die wir als Cutter von perforierten Filmen gross geworden sind, entwickelten unsere eigenen Strategien für den Umgang mit unserem persönlichen Amazonas, und diese Strategien dürfen nicht gedankenlos über Bord geworfen, sondern müssen dem vor uns liegenden digitalen Zeitalter angepasst werden.

Filmmontage: Bildschirm/Leinwand.

Die Bildgrösse.

() Wie geht man mit der Diskrepanz zwischen dem kleinen Bild im Schneideraum (auf einer Moviola, einem KFM oder einem Avid) und dem riesigen Kinobild um? Es ist derselbe Unterschied wie der zwischen einer Miniatur und einem Wandgemälde. Bei einem kleinen Bildschirm kann das Auge leicht alles auf einmal erfassen, während es auf einer grossen Leinwand nur Teilbereiche erfasst. Man blickt auf einen kleinen Bildschirm, aber in eine Kinoleinwand hinein. Wenn man auf ein Bild blickt und es dabei in seiner Gesamtheit erfasst, neigt man dazu, schneller zum nächsten Bild zu schneiden.

Bei einem Kinofilm, besonders wenn er das Publikum fesselt, ist die Leinwand keine Oberfläche, sondern ein magisches Fenster, eine Art Spiegel, durch den der ganze Körper hindurchgleitet und in der Handlung mit den Figuren auf der Leinwand ist. Wenn einem ein Film wirklich gefällt, merkt man nicht mehr, dass man im Kino sitzt und einen Film ansieht. Die Reaktionen sind ganz andere, als wenn man fernsieht.

Fernsehen ist ein Medium, auf das man «draufsieht», Kino dagegen ein Medium, in das man «hineinblickt». Man kann sich den Fernsehbildschirm als Oberfläche vorstellen, auf die das Auge trifft und von der es abprallt. Der Trick beim elektronischen Schneiden ist natürlich, sich, obwohl man Fernsehmonitore ansieht, irgendwie selbst davon zu überzeugen, dass es sich dabei um Kinoleinwände handelt. Man muss das «Draufsehen» in ein «Hineinblicken« verwandeln.

Eine der Funktionen von Musikvideos und Werbespots ist es, die Aufmerksamkeit des Zuschauers zu gewinnen und zu fesseln. Beim Fernsehen sieht man gewöhnlich für kurze Zeit aus einer gewissen Entfernung auf einen kleinen Bildschirm. Dieser ist umgeben von visueller Konkurrenz: Das Licht brennt, das Telefon klingelt, vielleicht befindet man sich gerade im Supermarkt oder einem Kaufhaus. Um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, muss das Fernsehen, wo im Vergleich zum Kinofilm die Bilder einen kleineren Blickwinkel füllen, die-Dinge innerhalb eines winzigen Bildes kollidieren lassen - deshalb die schnellen Schnitte, die Bildsprünge, die Reissschwenks und die schwindelerregende Handlung usw.

Im Kino herrscht eine vollkommen andere Ästhetik: Die Leinwand ist riesig, alles andere im Saal ist dunkel, es gibt - hoffentlich - keinerlei Ablenkung, man verbringt dort mindestens zwei Stunden; man kann den Film nicht nach Belieben anhalten. Deshalb muss der Spielfilmschnitt verständlicherweise ein anderes Tempo haben als Musikvideos oder Werbespots.

Was kann man nun tun, um das Problem der Bildgrösse - Miniatur versus Wandgemälde - zu lösen?

Erstens: bezogen auf das Bilddetail sich bewusst sein, dass das Auge ein grosses Bild in einem anderen Tempo erfasst als ein kleines.

Zweitens: den 35-mm-Film anpassen und ihn sich so oft wie möglich auf der grösstmöglichen Leinwand, die die Produktion zur Verfügung stellen kann, ansehen.

Drittens: mein ganz persönlicher Lösungsvorschlag - zwei kleine Papierfiguren ausschneiden und zu beiden Seiten des Bildmonitors eine aufstellen. Die Grösse der Figuren sollte im gleichen Verhältnis zur Grösse des Bildschirms stehen wie Menschen zur Grösse der Kinoleinwand. Wenn ich im Schneideraum also auf einen 56 Zentimeter breiten Bildschirm sehe, schneide ich mir meine kleinen Leute so zurecht, dass sie 10 Zentimeter gross sind. Mit ein wenig Einbildungskraft wirkt der Bildmonitor zehn Meter breit. Grundsätzlich mag ich diese Lösung, weil sie einfach ist. Sie denken vielleicht, dass da nicht viel dran ist, doch dieses Verfahren ist ausgesprochen hilfreich, Probleme zu lösen, bevor sie in Erscheinung treten.

Warum schneiden wir nicht einfach in grossen Räumen mit grossen Leinwänden? Nun, mit den digitalen Schnittsystemen und der Videoprojektion könnten wir sehr leicht beim Schnitt auch mit zehn Meter breiten «Leinwänden» arbeiten. Bloss wären die Mieten für die Räume dann sehr teuer. Teurer jedenfalls als meine kleinen Papierkobolde.

Trotzdem wäre es ein interessantes Experiment, mit einer zehn Meter breiten «Leinwand» zu schneiden.

 

 

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Urs Graf

Notizen zur Filmästhetik



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