Text / Film

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Text / Film

Neu im Kapitel «Film und Medien»

Text / Film.

«Warum Lesen» Bibliothek Suhrkamp, 2020. 24 Aufsätze.

Darunter ein Text von Hartmut Rosa, Professor für Allgemeine und Theoretische Soziologie, Jena.

Aktivität der Leser,
Passivität des Filmpublikums.

Ausschnitt aus dem Text «Vom Wunder narrativer Resonanz».

«… Zum einen müssen wir die Welt, von der wir lesen, innerlich ja erst erzeugen, wir müssen ihr Farbe, Geruch, Wärme, Weite geben. Anders als beim Film müssen wir alles narrativ Gestaltete in uns aktiv hervorbringen: Wenn da von einer Frau die Rede ist, die durch die Wüste reitet mit einem Korb auf dem Rücken, dann sehen meine Frau, mein Korb, mein Pferd und meine Wüste anders aus als deine, auch wenn wir die gleiche Geschichte lesen. Der Akt des Lesens erfordert daher eine ganz andere und viel höhere Selbstwirksamkeit als das Anschauen eines Filmes. Weil in einer Resonanzerfahrung Berührtwerden und Selbstwirksamsein aber stets miteinander verschränkt sind, haben wir hier den Grund dafür, wieso Lesen eine intensivere und nachhaltigere Erfahrung sein kann als das Kinoerlebnis. Beim Lesen bringen wir mit der Gestaltgebung der Welt die Modellierungen, Variierungen und Schattierungen der Weltbeziehungen selbst hervor, während sie im Kino bildlich und insbesondere auch akustisch immer schon vorgegeben sind.»

Doch so einfach ist es nicht.

Prof. H. Rosa scheint nur die Leser von konventionellen Romanen und das Publikum von konventionellen Spielfilmen im Blick zu haben.

Wie Prof. Rosa schreibt, erfordern Spielfilme keine Eigenaktivität des Publikums, da die Vorstellungen von Bildern und Tönen im Kino schon realisiert sind. Diese Haltung des Publikums beruht jedoch auch auf Jahrzehnten der Erfahrung, dass es sich dem Geschehen auf der Leinwand vertrauensvoll hingeben kann, das nach anderthalb Stunden ohnehin auf ein befriedigendes Filmende hinlaufen wird – die Beiden küssen sich, der Mörder wird gefasst – oder (in der höheren Film-Kategorie) durch die Erlebnisse des Helden/der Heldin erfährt das Publikum, was im Leben zählt.

Das Filmpublikum und die Aufmerksamkeit.

Es gibt Spielfilme, die nicht das Gefühl vermitteln, seine Szenen wären da, um das Publikum an den Ort zu führen, an dem die Beiden sich küssen oder wo sich aus der Film-Geschichte eine höhere Bedeutung ergibt.

Es gibt ein paar wenige Filme mit Szenen, die keine Erwartungen schaffen, Filme mit Szenen, die ihrer Intensität vertrauen. Szenen, die erleben lassen, dass es sich lohnt, Augen und Ohren offen zu halten. Filme, die sich schlicht als Werk verstehen, mit einer Folge von Szenen, die ihren Sinn in sich tragen, nichts anderes anbietend als die Intensität des Moments.

Über Jahrzehnte haben sich mir einige wenige Filme eingeprägt, die den Eindruck machten, sie würden sich nicht an dem orientieren, was an Spielfilm-Konventionen üblich ist – eigenständige Werke, Film-Kunst.

Meine Erinnerungen sind sehr zufällig – einzelne Filme, Namen von Filmautoren. Die Filme von Robert Bresson. Einzelne Filme von Michelangelo Antonioni, von Ettore Scola, von Jean-Luc Godard, von John Cassavetes, Kurzfilme von Jim Jarmusch (beginnend mit «Permanent Vacation»). Einzelne Filme von Marguerite Duras, unter anderem «India Song» (während sich andere ihrer Filme deutlich vom Spielfilm entfernen).

Besonders eindrücklich empfand ich damals (Premiere 1961) den Film «L'année dernière à Marienbad» von Alain Resnais.

Unter meinen Film-Büchern fand ich das Drehbuch, das Alain Robbe-Grillet für diesen Film geschrieben hat. Dazu hat Robbe-Grillet einen einleitenden Text geschrieben. Ich zitiere Ausschnitte daraus, die mir zu erklären scheinen, was unter Film-Kunst verstanden werden könnte (immerhin eine Möglichkeit).

(Als Regisseur hat Alain Robbe-Grillet neun Filme realisiert.

2008 ist er gestorben.)

Alain Robbe-Grillet «Letztes Jahr in Marienbad» (Drehbuch), Hanser Verlag 1961.

(Originalausgabe «L'Année dernière à Marienbad», Les Editions de Minuit, Paris 1961.)

Einleitung von Alain Robbe-Grillet zu seinem Drehbuch «Letztes Jahr in Marienbad».

«Ich kannte Resnais' Werk und bewunderte daran eine ausserordentlich eigenwillige, wohl abgestimmte und strenge Komposition, die frei war von einer übertriebenen Sorge zu gefallen. Ich erkannte darin meine eigenen Bemühungen um eine etwas zeremoniöse Gründlichkeit wieder, eine gewisse Langsamkeit und einen Sinn für das 'Theatralische', manchmal sogar jene Starrheit der Haltungen, jene Strenge der Gesten, der Worte und des Dekors, die gleichzeitig an eine Statue und eine Oper denken lassen. Schliesslich fand ich darin den Versuch wieder, einen rein geistigen Raum und eine rein geistige Zeit aufzubauen - die des Traumes vielleicht oder des Gedächtnisses, die allen Gefühlslebens überhaupt -‚ ohne sich dabei allzu viel um die traditionellen kausalen Verknüpfungen oder eine unbedingte Chronologie der Fabel zu kümmern.

Die linearen Handlungen des altväterischen Films, bei dem man uns kein einziges Glied aus der Abfolge der genau erwarteten Ereignisse erspart, sind bekannt.»

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«Resnais hat () die seltsame Atmosphäre jener Wochen in den frostigen Schlössern von Nymphenburg und dem kalten Park von Schleissheim beschrieben und erzählt, wie Giorgio Albertazzi, Delphine Seyrig und Sacha Pitoëff sich allmählich mit unseren drei Personen identifizierten, die keinen Namen und keine Vergangenheit haben und zwischen denen kein anderes Band besteht als die Verbindungen, die sie selbst durch ihre Gesten, ihre Stimmen, ihre Anwesenheit und ihre Einbildungskraft schufen.»

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«Menschen und Dinge im Innern dieser abgeschlossenen, erstickenden Welt scheinen in gleicher Weise Opfer irgendeiner Verzauberung zu sein, wie in jenen Träumen, in denen man sich durch eine schicksalhafte Ordnung gelenkt fühlt, deren geringste Einzelheit verändern zu wollen ein ebenso vergebliches Unterfangen wäre wie der Versuch, ihr zu entfliehen.»

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«Man weiss absolut nichts über sie und ihr Leben. Sie sind nur das, als was sie sich zeigen: Gäste in einem grossen Hotel, das von der äusseren Welt isoliert ist und das an ein Gefängnis erinnert. Was tun sie, wenn sie woanders sind? Man ist versucht zu antworten: nichts! Woanders existieren sie nicht. Was die Vergangenheit anbetrifft, die der Unbekannte mit Gewalt in diese abgeschlossene, leere Welt hineinbringt, so hat man den Eindruck, dass er sie hier und jetzt während er spricht, erfindet. Es gibt kein letztes Jahr, und Marienbad findet sich auf keiner Karte mehr. Auch diese Vergangenheit hat ausserhalb des Augenblicks, in dem sie mit hinreichender Kraft beschworen wird, keinerlei Realität; und als sie endlich triumphiert, ist sie ganz einfach Gegenwart geworden, als ob sie niemals aufgehört hätte, es zu sein.

Ohne Zweifel ist der Film ein für diese Art Bericht prädestiniertes Darstellungsmittel. Das Charakteristischste des Bildes ist seine Gegenwärtigkeit. Während die Literatur über eine ganze Skala von grammatischen Zeiten verfügt, die es ermöglichen, die Ereignisse in ihrem zeitlichen Verhältnis zueinander zu situieren, kann man sagen, dass auf dem Bild die Verben immer im Präsens stehen. () Mit aller Evidenz ist das, was man auf der Leinwand sieht, dabei, sich zu vollziehen, man gibt uns die Geste selbst, und nicht einen Bericht von ihr.»

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«Der Zuschauer läuft Gefahr, so wird man sagen, den Boden unter den Füssen zu verlieren, wenn er nicht von Zeit zu Zeit die 'Erklärungen' erhält, die ihm ermöglichen, jeder Szene ihren Platz in der chronologischen Folge und ihren tatsächlichen Wirklichkeitsgrad zuzuweisen. Wir haben uns jedoch entschlossen, ihm Vertrauen zu schenken, ihn von Anfang bis Ende in der Auseinandersetzung mit den reinen Subjektivitäten zu lassen. Damit sind zwei Einstellungen dem Film gegenüber möglich: entweder versucht der Beschauer irgendein 'cartesianisches' Schema wiederherzustellen, das so linear und so rational wie möglich ist - und ein solcher Zuschauer wird den Film wahrscheinlich als schwierig, wenn nicht sogar unverständlich bezeichnen -‚ oder aber er lässt sich von den ungewöhnlichen Bildern, die er vor Augen hat, durch die Stimme der Schauspieler, durch die Geräusche, die Musik, durch den Rhythmus der Montage, durch die Leidenschaft der Hauptgestalten tragen . . . einem solchen Zuschauer wird der Film als der leichtest verständliche erscheinen, den er je gesehen hat: ein Film, der sich nur an seine Sensibilität, an seine Fähigkeit zu betrachten, zu hören, zu fühlen und sich bewegen zu lassen, wendet. Die erzählte Geschichte wird ihm als durchaus realistisch und wahrhaftig erscheinen, als eine, die am besten seiner alltäglichen Empfindungsweise entspricht, sobald er bereit ist, sich von den vorgefassten Ideen, der psychologischen Analyse und den mehr oder weniger groben Interpretationsschemata zu befreien, die die gängigen Romane oder der dahindämmernde Film ihm bis zum Überdruss immer wieder vorsetzen und die die schlimmsten Abstraktionen sind.»

Le Nouveau Roman.

Zentrale Autoren des Nouveau Roman: Nathalie Sarraute, Michel Butor und Alain Robbe-Grillet (Autor des Drehbuchs von «L'Année dernière à Marienbad»).

Die Worte und die von ihnen hervorgerufenen Vorstellungen. Und die sich beharrlich behauptenden Worte.

Wenn ich Texte des Nouveau Roman lese, fällt mir auf, dass diese bei mir wohl Vorstellungen von möglichen Orten, Umgebungen, handelnden Personen entstehen lassen, doch die Realität der Worte im Buch bleibt erhalten. Sie sind nicht nur mediale Transportmittel. Wenn ich mich später an das Buch erinnere, ist da nicht nur eine Geschichte, auch die Worte haben sich mir eingeprägt. Das Wort, die Stellung in seinem Satz ist erhalten geblieben – seine konkrete Erscheinung, selbstverständlich in französisch, in der Sprache des Autors.

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Mir scheint, je höher die Qualität eines literarischen Textes ist, desto stärker prägen sich mir die konkreten Worte ein. Sie verschwinden nicht, nachdem sie Vorstellungen einer möglichen Realität geschaffen haben. Wenn ich auf eine Stelle des Buches zurückblättern will, weiss ich üblicherweise, wo ein bestimmtes Wort auf der Seite steht.

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Gleichermassen prägen sich mir die Worte von Lyrik ein, haben ein besonderes Gewicht. Sie bewahren ihre Gestalt, haben ihren Platz in einer Zeile, unabhängig von den Bildern von Bäumen und Blumen, von denen sie vielleicht sprechen mögen. Und auch die von ihnen geschaffenen sinnlichen Vorstellungen der Welt verfestigen sich nicht, bleiben wandelbar. Die Worte sind immer noch da, ich kann zur Realität der Zeile zurückkehren.

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Auch im Drehbuch von Alain Robbe-Grillet geht es um Personen, Handlungen, Dialoge, Filmbilder, doch die von ihm gewählten Worte scheinen ein besonderes Gewicht zu haben. Die Realität der Filmhandlung wird nie ganz an seine Worte herankommen. Diese Fremdheit des Drehbuchs bleibt in der Inszenierung von Alain Resnais erhalten.

Ich komme auf den Text von Alain Robbe-Grillet zu seinem Drehbuch zurück, zitiere zwei Stellen:

«Schliesslich fand ich darin den Versuch wieder, einen rein geistigen Raum und eine rein geistige Zeit aufzubauen - die des Traumes vielleicht oder des Gedächtnisses, die allen Gefühlslebens überhaupt ...»

«Man weiss absolut nichts über sie und ihr Leben. Sie sind nur das, als was sie sich zeigen. () Man den Eindruck, dass er sie hier und jetzt, während er spricht, erfindet. () Diese Vergangenheit hat ausserhalb des Augenblicks, in dem sie mit hinreichender Kraft beschworen wird, keinerlei Realität.»

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Urs Graf

Notizen zur Filmästhetik



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