Die ProtagonistInnen (aus der Drehvorlage).

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Die ProtagonistInnen (aus der Drehvorlage).

Aus der Drehvorlage des Projekts «Unstillbares Feuer» (Arbeitstitel des Films «Gute Tage»).

Die ProtagonistInnen –
ihre Krankheiten, ihre Behinderungen.

Cristina Fessler

Malerin, Zürich.

Krankheit: MSA, Multi System Atrophie (Nervenkrankheit, zunehmende Lähmungen).

Ich treffe sie im Januar 2012. Gespräch, Fotografie mit Klaus Stromer. Vereinbarung: Filmaufnahmen ihres Arbeitens, sobald sie einen Guten Tag hat. Es kommt nicht dazu, sie stirbt im Juni 2012.

Boris Mlosch

Plastiker, Maler, Radierungen. Uster.

Krankheit: Lungenhochdruck (abnehmende Sauerstoff-Versorgung des Körpers, Überforderung des Herzens).

Er stirbt Ende 2014. (Da endet auch der Film).

Renate Flury

Plastikerin, Malerin. Weinfelden.

Krankheit: Multiple Sklerose.

Daniel Pestel

Plastiker. Zürich, französisch sprechend.

Krankheit: Halbseitige Lähmung nach Hirnblutung.

Schang Hutter

Plastiker, Lithografien. Derendingen, Atelier in Attiswil.

Unfall/Krankheit: Schwere Rückenverletzung und eine Reihe von Hirnschlägen (sog. Streifungen).

In der Drehvorlage: Die vier ProtagonistInnen:

Boris Mlosch.

1954*, Deutscher, in Uster wohnhaft, seit 52 Jahren in der Schweiz.

Lungenhochdruck.

Vergangenheit, die Geschichte:

Boris Mlosch: «1995 ging es mir schlecht, konnte kaum noch Treppensteigen. Wenn ich meinen VW-Bus einparkte, wurde mir schummrig, musste ich zwei Minuten Pause einlegen, um nicht ohnmächtig zu werden. Im Uni-Spital stellten sie dann fest, dass ich Chronisch-thrombolische Pulmonalhypertonie habe. Das klang furchtbar bedrohlich – die kurze Lebenserwartung, man sprach von etwa drei Jahren. Es kommt eben dazu, dass sich das Herz überanstrengt, weil es den Sauerstoffmangel beheben will, das Blut durch die engen Adern der Lunge zu pressen sucht. Jedenfalls war da klar, dass ich keine Plastiken mehr machen kann, das Atelier aufgeben musste, die Werkzeuge zum Steinhauen und zum Schweissen weggeben.»

UG: «Hattest du da auch schon Schwierigkeit mit den Händen?»

B: «Nein, das kam viel später. Angefangen hat es 2006 mit den Füssen, zuerst nur leicht. Die Hände kamen erst vor einem Jahr dazu – den Handrücken spüre ich noch, aber da vorne in den Fingern ist das Gefühl weg – da erhöht sich natürlich die Verletzungsgefahr, aber vor allem wirst du ungeschickt.»

Gegenwart:

UG: «Dann wars für einige Zeit fertig mit der Kunst?»

B: «Nein - im Spital Richterswil – ich war ganz am Ende, aber lag auf dem Bauch, hatte eine Radierplatte mit einem Pflaster auf ein Tischchen geklebt, auf dem Fenstersims lagen Äpfelchen und eine Pfingstrose und davon machte ich eine Radierung, ziemlich holprig, aber sie gefällt mir immer noch – zeige sie dir nachher. Da machte ich die Wohnung zum Atelier und kaufte eine kleinere Druck-Presse, damit ich weiter meine Radierungen drucken kann – aber die Plastiken, das ging nicht mehr. Da begann ich zu malen.»

UG: «Es geht dir besser?»

B: «Ohne all die Medikamente würde ich wohl schon lange nicht mehr leben. Dank der Medikamente bekomme ich wieder etwas mehr Sauerstoff und die Opiate dämpfen die Schmerzen. Am Anfang hatte ich ein schlechtes Gewissen wegen der hohen Kosten all der Tabletten, pro Monat gehen gute zehntausend Franken an die Pharma-Industrie. Ich habe mir zuerst dummes Zeug überlegt – es dauerte einige Zeit bis mir klar war, dass ich nicht von einer Brücke springen werde.

Jetzt kann ich während zwei bis drei Stunden im Haushalt etwas tun, kochen, etwas flicken usw, aber wenn du kunstest, dann musst du ins Offene, musst etwas riskieren, gibst dir Blössen. Das ist viel anstrengender, das zehrt enorm an den Lebenskräften. Da bin ich nach 45 Minuten total fertig.»

UG: «Warum genau musst du aufhören?»

B: «Ich kriege nicht mehr genügend Luft, habe scheussliche Schmerzen in den Füssen – und es geht mir auch auf die Birne – du hast ja gesehen, wie ich schusselig werde, wie ich Mühe habe, mich zu konzentrieren – es sackt alles weg und wenn ich es darauf ankommen liesse, würde ich irgendwann ohnmächtig. Doch andrerseits - wenn ich keine Kunst mehr machen könnte, dann wären auch meine Lebenskräfte weg.

Wenn ich mich dann hinlege, weiss ich nicht, ob ich an diesem Tag noch einmal die Kraft finden werde, um noch einmal dran zu gehen. Heute Morgen habe ich zu lange gemacht, es ist zu wenig geschehen, ich wollte weiter kommen. Es nervt mich, wenn ich so rumliege – ich möchte sehen, was aus diesem Bild wird. Jetzt hat es einfach noch kein richtiges Zentrum. Ich bin gespannt, was ich da machen kann.»

Renate Flury.

1953*, Schweizerin, wohnhaft in Weinfelden.

Multiple Sklerose.

Vergangenheit, die Geschichte:

Ihre künstlerischen Arbeiten waren schon immer Auseinandersetzungen mit dem menschlichen Körper. Ausbildung als Pianistin und als Tänzerin, dann Steinbildhauerei. Seit 1998 sind über die Jahre hinweg immer mehr MS-Symptome aufgetreten: Sehstörungen, unscharfe oder doppelte Bilder. Lähmung des rechten Beins. Sensibilitätsstörungen, Taubheit in den Fingerspitzen.

Renate Flury: «Die Spastik von Händen und Füssen wird mit einer eingepflanzten Pumpe gedämpft, die automatisch Morphin und ein Antispastikum abgibt. Ich möchte unbedingt die Dosis reduzieren, um wacher, präsenter zu sein. Ebenso schlimm, wie die direkten MS-Symptome sind die Schäden, zu denen sie führen können. Jetzt habe ich eine starke Entzündung des linken Schultergelenks vom Gehen mit dem Rollator. Damit die Entzündung abklingt, müsste ich den ganzen Tag im Rollstuhl sein; doch sobald ich mich damit bewege, wird ja das Schultergelenk auch angestrengt.»

R: «Ich musste die Arbeit im Thurgauer Kunstmuseum aufgeben, wo ich beim Aufbau der Ausstellungen mitarbeitete. Da hatte ich unglaubliches Glück. Die Arbeitskollegen haben mich immer noch nicht vergessen, legen jeden Monat etwas Geld zusammen und schicken es mir, weil sie wissen, dass ich knapp durch muss – und das nun schon seit zehn Jahren.»

R: «Ich habe über all die Jahre hinweg immer nach Materialien gesucht, die mich ansprachen und die meinen körperlichen Möglichkeiten entsprachen, die immer weniger wurden – Kunststoffe, dann Schaumstoff, dann Ton und Gips, dann Wachs, dann Zweidimensionales – Zeichnungen, Bilder, teils mit dem PC.»

Gegenwart:

UG: «Ist es schwierig für Dich, dass Du nicht mehr dreidimensional arbeiten kannst?»

R: «Das Zeichnen und Malen ist mir heute lieber, weil das nicht mit schmerzlichen Erinnerungen an die früheren Formen meines Kunstens verbunden ist.»

R: «Seit etwa drei Jahren arbeite ich vor mich hin, ohne mich um das Veröffentlichen zu kümmern. Das möchte ich ändern, habe Lust meine Kunst zu zeigen. Beim Malen bin ich ganz auf das Bild konzentriert, denke nicht an jemanden, der das einmal sehen wird, aber ich muss schon sagen, dass es wunderbare Erlebnisse waren, wenn die Leute an Ausstellungen meine Sachen betrachteten und ich all diese Reaktionen miterleben konnte. Das fehlt mir. Ich habe immer noch etwas zu sagen. Das gilt auch für deinen Film: Ich habe nicht nur im Zusammenhang mit meiner Krankheitserfahrung etwas zu sagen. Ich bin nicht nur MS, habe auch viel Gesundes in mir.»

R: «Die Ärzte haben mich gewarnt, jede Überforderung würde einen Krankheitsschub auslösen. Doch wenn es mich packt, wenn ich ganz in der Leidenschaft des Schaffens drin bin, dann geht es mir gut. Sogar wenn ich danach erschöpft bin, fühle ich mich gut. Und seit mir die Vorstellung selbstverständlich geworden ist, es könnte gelegentlich Zeit sein, um zu gehen – seit ich mir das Sterben vorstellen kann, ohne dass das eine grosse Sache wäre, seit sich da bei mir etwas verändert hat, geht es mir besser, fühle ich mich recht gut.»

In letzter Zeit setzt sich Renate wieder jeden Tag ans Klavier, obschon ihr die Hände nicht mehr so recht gehorchen wollen. Sie spielt langsam, Ton für Ton, horcht den Klängen nach. Sie sagt, sie fühle sich recht frei, traure jetzt nicht mehr ihren Beethoven- oder Schubert-Interpretationen nach.

Nachtrag: Mail vom 12.2.13: «Lieber Urs, danke für Deine Post. Ich hoffe sehr, Du schonst Dich wirklich etwas in den nächsten Wochen. Zu mir: Ich habe mich entschieden, nun doch an der Kulturlandsgemeinde Appenzell mitzumachen. Nun bin ich am Recherchieren und Abklären und Budgetieren.

Gesundheitlich geht es halt weniger, aber wenn ich mal dran bin, bin ich ganz ok. Trotzdem mache ich mir in letzter Zeit Gedanken, ob ich wohl bald eine andere Bleibe brauche, wo ich ein bisschen mehr aufgehobener bin.»

Daniel Pestel.

1939*, Franzose, wohnt mit Marie-Louise Tschuor in Zürich.

Hirnblutung, halbseitig gelähmt.

Vergangenheit, die Geschichte.

Daniel Pestel schuf Skulpturen aus Holz und aus Eisen, teils in monumentalen Proportionen, und er unterrichtete „Skulptur im urbanen Raum“ an der école des arts décoratifs in Paris.

(Aus dem Französischen übersetzt):

Daniel Pestel: «Ich kann nicht mehr Holz, Metall, Stein bearbeiten und zusammenmontieren. Dafür braucht man zwei Hände und man braucht Kraft in den Händen. Ich hatte eine Hirnblutung, das war in Zürich. Seither ist meine ganze linke Seite gelähmt. Wenn ich nicht liege, bin ich im Rollstuhl.»

Marie-Louise Tschuor: «So wie Daniel das sagt, denkst du, das sei eine Lähmung von Arm und Bein, doch es sind auch Zentren des Gehirns betroffen, Wahrnehmung, Koordination: Es ist heute noch schwierig für dich, ein T-Shirt anzuziehen, und du bist schnell müde.»

UG: «Und die Kunst?»

D: «Sie wollten in der Reha, dass ich zeichne. Dagegen habe ich mich gesperrt. Es gab Zeiten, in denen ich das Zeichnen geliebt habe, doch irgendwann hatte ich es hinter mir gelassen, gab es für mich nur noch die Skulpturen, die Assemblagen, die Kunst im Raum.»

ML: «Die erste Zeit war Daniel nur auf seine Rehabilitation konzentriert, Essen, Schlafen und Übungen machen. Tag für Tag. Zwei Jahre lang wusste man nicht, ob er da durchkommt. Wir haben zwei Jahre lang gekämpft, Physio-Übungen gemacht, bis ein Leben im Rollstuhl möglich wurde.»

Gegenwart:

UG: «Und wie kam es zu den Objekten, die du heute machst?»

D: «Ich habe mich gegen das Dahinvegetieren gewehrt, und nach und nach kehrte das Leben zurück. Etwas neues, etwas anderes zu beginnen, das war bei mir kein Entschluss – das kam ganz langsam sanft aus dem Innern. Eines Tages merkt man, dass da etwas existiert, das aus sich heraus lebt. Ich weiss nicht, wie es dazu kam, dass wieder Objekte entstanden, etwas ganz anderes als das, was ich kannte – ganz kleine, zarte Dinge. Was ich dafür verwende, beispielsweise ein totes Blatt, das hat seine eigene Geschichte. Und mir geht es darum, dass diese Dinge eine Verbindung miteinander eingehen. Jedes bringt seine eigene Geschichte mit. Vieles füge ich noch hinzu – sei es Farbe oder indem ich sie perforiere oder etwas darauf klebe. Ich will meine eigenen Geschichten erzählen durch die Geschichte dieser Dinge hindurch. Ich habe früher auch schon Assemblagen gemacht, die verfallen durften, die nicht für die Ewigkeit gedacht waren. Und das mache ich auch jetzt, aber mit kleinen, alltäglich-banalen Dingen, die ich finde, die mir Freunde bringen oder die sie mir schicken – vom geliebten Meer bei Bordeaux oder im Herbst sogar aus Kanada einige Ahorn-Blätter.»

UG: «Und wie kommst du damit zurecht, dass Marie-Louise für dich sorgt?»

D: «Ich würde dahinvegetieren, wenn sie nicht für mich sorgen würde. Manchmal ist es schon schwierig, all das anzunehmen, was Marie-Louise für mich tut. Du pflegst mich, machst den Haushalt, die ganze Administration, Fotos, Kontakte, Einladungen und daneben verdienst du auch noch etwas. Meine Pension und unsere Ersparnisse würden ja nicht reichen. Und du führst mich mit dem Rollstuhl an Orte, wo wir etwas für meine Objekte finden können…»

ML: «… und wenn du bei der Arbeit an einem deiner Objekte eine zweite Hand brauchst.»

D: «Ja, darauf bin ich immer wieder angewiesen.»

Nachtrag: Daniel ruft mich an. Er ist aus dem Pflegeheim im Zürcher Oberland zurück. Er sagt: «Wir haben mein Atelier in Südfrankreich geräumt; die Arbeit hat zwar Marie-Louise geleistet, aber ich habe mich etwas übertan, habe es schlecht verkraftet. Hoffentlich hat sie sich in diesem Monat etwas von mir erholt.»

Schang Hutter.

1934*, Schweizer, wohnhaft in Derendingen, Ateliers in Bellach und Genua.

Behinderung des Stehens und Gehens.

Vergangenheit, die Geschichte:

UG: «Seit wann hast du Schwierigkeiten mit den Beinen?»

Schang Hutter: «Das kam unheimlich rapid. Aber es hat eine lange Vorgeschichte. Vor zehn Jahren habe ich noch Allesmögliche gemacht, 25 Meter hohe Eisen-Plastiken. Als ich mit diesen monumentalen Plastiken aufhören und mich Kleinerem zuwenden wollte, hatte ich den Unfall mit dem umstürzenden Kran, bei dem mein Rücken kaputtging. Das hatte keine Konsequenzen auf meine Arbeit, wäre eigentlich nicht nötig gewesen. Ich wollte so oder so diese grossen Sachen nicht mehr machen, weil man daran zwei Jahre arbeitet und das behinderte meine Entwicklung, verhindert dass ich weiterkomme.»

UG: «Und das Gehen?»

S: «Die Schwierigkeiten mit dem Gehen begannen vor zwei Jahren. Man weiss nicht obs vom Gehirn kommt oder vom Rücken: Vom Gehirn, weil ich immerhin zehn Streifungen hatte, eine davon so massiv, dass ich eine Zeitlang nicht mehr sprechen und schreiben konnte oder es kommt vom Rücken, der ja seit meinem Unfall mit dem Kran so havariert ist, dass sich nichts mehr daran flicken lässt.»

Gegenwart:

UG: «Hast du Schmerzen?»

S: «Nein, Schmerzen habe ich nicht, ich bin einfach behindert, kann nicht mehr recht gehen, langsam, mit ganz kleinen Schritten, bin wacklig auf den Beinen. Im Moment habe ich das Gefühl, ich sei am Anfang von etwas, weiss noch nicht wie das mit meinem Schaffen herauskommt. Jetzt habe ich einen Rollator gekauft, damit ich im Atelier besser unterwegs sein kann. Und einen Rollstuhl. Ich bin mit meiner Frau nach Bad Ragaz gefahren, wo eine Ausstellung von mir eröffnet wurde. Sie hat mich mit dem Rollstuhl herumgestos-sen. Wir waren auch zusammen in einem Museum in Innsbruck.»

UG: «Und die Arbeit, die Kunst?»

S: «Für meine Ateliers in Bellach und in Genua habe ich zwei hohe Stühle mit Rollen machen lassen, damit ich beim Porträtieren in Ton hoch sitzen kann, fast Stehen wie früher. Das muss ich jetzt ausprobieren. Ich habe schon in jungen Jahren porträtiert und bin in den letzten Jahren darauf zurückgekommen – habe das Gefühl, dass das eine freiere Arbeit ist, die nicht einem Thema nachsecklet. Das tut mir gut, das befreit mich. Und es befreit mich auch in den Figuren, die ich jetzt mache. Es sind nicht mehr diese Opfergestalten, die man von mir kennt, diese Opfer von Gewalt und Ungerechtigkeiten, 'Vertschaupet' – ich staune, wie sie etwas Freieres ausstrahlen, wie sie andere Haltungen haben, die Arme offen, einen anderen Ausdruck, habe jetzt auch schon farbige Figuren gemacht, orange, weiss und hellblau angestrichen.

Diese Behinderungen – ich habe das Gefühl, das wird immer mehr, kann vielleicht bald nicht mehr stehen, aber ich fühle, ich bin am Anfang von etwas.»

Nachtrag vom 25.3.2013: Schang erzählt, er sei am Zügeln, richte sich in einem Fabrikli in Attiswil eine Werkstatt ein - in der Nähe von Solothurn.

UG: «Du gibst Dein Atelier in Bellach auf und zügelst Dein ganzes Lager? Das ist ja eine riesige Arbeit.»

Schang: «Ja schon, aber das ist meine letzte Züglete. In Bellach war ich zur Miete; doch dieses Fabrikli hier habe ich jetzt gekauft und wenn es mich putzt, ist alles versorged und sie können sich Zeit lassen, in aller Ruhe schauen, was sie damit machen.»

Jllo Ziessler und Traute Klinghammer hatte ich im Exposé vorgestellt, jedoch nicht mehr in der definitiven Drehvorlage.

Nach einiger Zeit wurde mir klar, dass das Schaffen von Jllo Ziessler in den letzten Jahren so vielfältig war, dass sich nicht der mir wichtige Eindruck ergab, sie sei durch ihre Behinderung eines künstlerischen Ausdrucks beraubt worden, der sich über Jahrzehnte hinweg ergeben hatte, der zu einem wichtigen Teil ihrer Identität geworden war.

Die 91-jährige Traute Klinghammer hatte ich kennengelernt, weil ich von den expressiven ungegenständlichen Gemälden begeistert war, die ich in der grossen Zürcher Galerie Proarta gesehen hatte. Doch noch vor meinen ersten Dreharbeiten konnte sie nicht mehr arbeiten, war geschwächt im Spital, starb, während ich die ersten Aufnahmen machte.

Jllo Ziessler.

1928*, Deutsche, wohnhaft in Zürich, seit 60 Jahren in der Schweiz.

Behinderung des Stehens und Gehens.

Vergangenheit, die Geschichte:

Die 84-jährige Jllo Ziessler habe ich bei der Physiotherapie kennengelernt. Sie geht am Stock.

Sie war an der Kunstgewerbeschule in Hamburg, dann Schauspielunterricht, war auf vielen Bühnen, in all den Rollen, die sich eine Schauspielerin wünschen kann. Danach Zeichnungen, Bildhauerei, zuerst figürlich, dann zunehmend abstrahierend.

Jllo Ziesler: «Auch hinter den ungegenständlichen Werken, die ich heute mache, sind gegenständliche Ideen verborgen; doch der Ausgangspunkt der Arbeiten ist nicht eine Idee, sondern die Wahl eines bestimmten Steins, eine Form, Struktur, Farbe, ein bestimmter gelblicher französischer Sandstein beispielsweise.»

UG: «Was für Probleme hast du jetzt bei der Bildhauerei?»

J: «Im Januar vor vier Jahren bin ich verunfallt. Im tiefen Schnee geriet mein rechter Fuss in ein Loch, konnte nur mit fremder Hilfe befreit werden. Das Fersenbein war drei Mal gebrochen. Drei Monate Spital, drei Operationen, die Knochen mit Metallteilen fixiert. Nach neun Monaten sollten die Metallteile entfernt werden; da zeigte sich, dass die Brüche nicht heilten, die Metallteile mussten im Fuss bleiben. Ich habe Schmerzen, wenn ich den Fuss belaste. Und mit meinem verkrampften Gehen habe ich mir auch noch den Rücken kaputtgemacht, zwei Rückenwirbel haben sich verschoben. Jetzt habe ich auch noch Rücken-schmerzen, und das strahlt auch noch in das rechtes Bein aus, bis in den Fuss, der so oder so schon weh tut.»

Gegenwart:

UG: «Du kannst doch sitzen und den Stein, die Skulptur auf eine Drehscheibe stellen.»

J: «Der Stein ist der Ausgangspunkt der Skulptur. Für Bildhauer ist es selbstverständlich, dass der Stein seinen Platz im Raum hat und dass man sich um ihn herum bewegt, wenn man daran arbeitet.

Noch etwas Zweites: Skulpturen entstehen aus dem ganzen Körper des Künstlers heraus, der ganze Körper ist beteiligt. Vieles fliesst aus dem Gedächtnis des Körpers in die Skulptur ein. Das geht aber nur, wenn sich der Körper auch frei bewegen kann. Und das kann ich nicht mehr, das heisst, das sollte ich nicht mehr tun. Von allen Seiten sagt man mir, ich solle endlich mit der Bildhauerei aufhören, während die moderateren Stimmen mahnen, ich müsse unbedingt auf dem Stuhl sitzenbleiben – also sitze ich; doch wenn ich in die Arbeit vertieft bin, vergesse ich mich immer wieder, stehe auf und bewege mich um den Stein herum.

Es dauert immer einige Zeit, bis ich spüre, wie weh es tut, aber danach habe ich wieder während Tagen starke Schmerzen im Fuss, im Rücken, im Bein und der Arzt sagt, dass so auch weitere Rückenschäden entstehen. Ich weiss nicht, ob ich das sitzend Arbeiten wirklich noch lernen will.»

Traute Klinghammer.

91 Jahre, „zum Glück gesund“.

1922*, Deutsche. Erfurt, Hamburg, Neapel. In Zürich wohnhaft seit 50 Jahren.

Vergangenheit, die Geschichte:

TK: «Ich war Buchhändlerin und die Literatur ist mir bis heute wichtig geblieben; doch nach dem Krieg hatte man da kein Auskommen mehr. Da ich im Lazarett gearbeitet hatte, machte ich mir das zum Beruf, bildete mich weiter aus und war dann OP-Schwester bis zur Pensionierung. Doch der entscheidende Einschnitt in meinem Leben war, als ich wegen einer Wirbelsäulen-Operation ein Jahr lang nicht arbeiten konnte, daheim war. Ich betrachtete immer wieder die Baumgruppe vor dem Fenster und dachte, die müsste man malen. Ich kaufte Pinsel, Ölfarben, zog Leinwände auf. Es hat keinen Sinn, von etwas zu träumen - wenn man etwas will, muss man anfangen, egal was dabei rauskommt und dann dranbleiben, dranbleiben.»

UG: «Dann gibt es Bilder von dieser Baumgruppe?»

TK: «Nein, ich habe immer ungegenständlich gemalt; diese Baumgruppe hat nur etwas in Bewegung gesetzt.»

TK: «Wenn ich ein Bild beginne, habe ich eine sehr klare Vorstellung davon - vor allem eine Farb-Vorstellung. Und aus dieser Arbeit mit den Farben entsteht dann nach und nach das Bild - immer etwas ganz anderes als das, was ich mir vorgestellt hatte.»

Gegenwart:

TK: «Mit der Zeit wurde mir der Weg ins Atelier zu mühsam. Seither arbeite ich hier im Wohnzimmer. Da kann ich natürlich nicht mehr schweissen. So entstehen heute keine Eisenplastiken mehr.»

TK: «Ich hatte noch nie einen solchen Stress wie im letzten Jahr. Das war meine dritte Einzelausstellung in der Galerie Proarta. Dann kam auch noch die Visarte-Ausstellung dazu. Und die Presse und das Fernsehen.»

UG: «Mich störte, dass in den Medien immer Ihr Alter in den Titeln, im Zentrum der Texte stand.»

TK: «Die Schreibenden waren wohl nicht sehr an Kunst interessiert. Beeindruckt hat sie, dass ich mit 90 so viele und so grosse Bilder male. Das hat dann auch den Blick auf die Bilder etwas verstellt. Es kamen zwar noch nie so viele Leute in die Galerie, aber gekauft haben diese Leute natürlich nichts.»

Zukunft (die Gegenwart des Films):

TK: «Es ist alles etwas mühsamer geworden. Auf solch grosse Dinge wie im vergangenen Jahr werde ich mich nicht mehr einlassen, das war zu viel Stress. Ich will nur noch so viel malen, wie es mir Freude macht.»

UG: «Das Malen ist wohl nicht immer reine Freude.»

TK: «Ja, ich bin oft nicht zufrieden, wenn ich am Abend meine Arbeit anschaue, oder am nächsten Morgen. Aber es ist ein gutes Gefühl, dieses Dransein, aber Dransein ohne etwas zu erzwingen. Wenns nicht will, stelle ich das Bild für einige Zeit weg. Sonst verkrampft man sich. Und ich musste schon immer zwischendurch in der Natur draussen sein. Das Spazieren ist allerdings in den letzten Jahren schwieriger geworden. Ich muss immer wieder anhalten, wenn der Atem nicht mehr reicht. Letzte Woche wurde entschieden, dass die Operation einer Herzklappe nichts bringt. Aber ich habe jetzt endlich einen Arzt gefunden, der auch denkt, die Herzrhythmusstörungen müssten nicht sein. Nächste Woche werde ich nun einen Herzschrittmacher bekommen, dann werde ich wieder mehr draussen unterwegs sein können.»

TK: «Ich halte es nicht aus ohne Kunst, wobei ich in Zukunft wohl mehr schauen werde, was die andern machen - an Ausstellungen und über das Internet; ich habe jetzt einen Laptop gekauft, damit ich das verfolgen kann. Doch mein Interesse gilt natürlich weiterhin auch der neuen Musik und der Literatur. Aber ich muss auch selbst etwas tun, künstlerisch, sonst ist das kein Leben. Und daneben muss ich in meinem Alter auch etwas Ordnung schaffen, hinter mir etwas aufräumen. Zum Glück gibt es in Bern eine Institution, die meine Werke übernehmen wird, die Kunst archiviert und aus dieser Sammlung ihre ständige Ausstellung gestaltet. So muss ich mir darüber keine Sorgen machen.»

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Urs Graf

Notizen zur Filmästhetik



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