Film und Zeit.

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Film und Zeit.

Film und Zeit.
(Einstellungen und ihre Dauer)

Ein paar Vorworte.

Das Übliche vorausgesetzt.

Produzenten, Drehbuchautoren und Film-Regisseure, die das Kino mit Filmen beliefern, halten sich mehr oder weniger im Rahmen der Konventionen, werden jedoch kaum in Worte fassen können, worin diese bestehen. Doch kann man sich darauf verlassen, dass sich ihr Unbewusstes an die Regeln halten wird.

In der Praxis, wenn Verleiher oder Kinobetreiber etwas an der Rohmontage eines Films kritisieren, könnten die Film-Konventionen fassbar werden, doch auch darauf kann man sich nicht verlassen; denn wenn sich die Leute der Branche mit einheimischer Ware befassen, setzen sie die Grenzen noch etwas enger, dann geht es um persönliche Ansprüche, persönliche Vorlieben, persönliche Ängstlichkeiten. Wenn sie jedoch in ihrem Job mit Filmen des internationalen Markts konfrontiert sind, werden solche Filter automatisch ausgeschaltet; dann richtet sich der Blick nicht mehr auf die Filme, sondern nur noch auf die internationalen Einspielergebnisse.

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Bei der internen Vorführung des Films setzt der Produzent durch, dass ein paar heikle Stellen entfernt werden. Doch vor der Projektion für den mitproduzierenden Fernseh-Redaktor werden zwei der problematischen Stellen wieder in den Film eingefügt (ein gewagtes Bild, eine Dialog-Stelle). So gibt man dem Redaktor die Möglichkeit, seine Kompetenz zu zeigen. Er erlebt, wie ernst er genommen wird, wie kritisch man sich mit seinen Argumenten befasst und sich letztlich doch überzeugen lässt. Befriedigt von seiner Wichtigkeit macht er sich auf den Heimweg, er hat Entscheidendes zu diesem Film beitragen können.

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Konventionen

Es existieren verschiedene Formen des Spielfilms, der Erzählweisen, der Gestaltungs-Prinzipien mit ihren Identifikations-Angeboten. Wer sich nicht auf das Spiel mit solchen Formen einlässt, hat in diesem Gewerbe keine Zukunft. Doch das ist erst der grobe Raster der Anpassung.

und Ansprüche.

In der schweizerischen Praxis geht es nicht um die weltweit üblichen Konventionen, geht es nur um die Ansprüche von Produzenten, Förderinstanzen, Verleihern und Kinobetreibern, letztlich um das mangelnde Vertrauen in das Publikum.

Filmautoren, die schon mal ein Projekt vorgelegt haben, wissen, dass diese Fachleute keine eigene Meinung haben, dass sie sich immer auf die Vorliebe und den Geschmack eines imaginären Publikums stützen.

Es ist jedoch nicht so, dass sie eine Meinung hätten und diese nicht äussern; sie haben sich Ansichten und Werturteile längst abgewöhnt, betrachten Projekte und Filme nur noch mit den Augen ihrer Kundschaft – der Produzent mit den Augen des Verleihers, der Verleiher mit den Augen des Kinobetreibers, der Kinobetreiber mit den Augen seines Publikums.

Noch deutlicher wird das in den Kontakten mit Fernsehredaktoren, die wissen, wie Filme beschaffen sein müssen, wie solide ein Plot gebaut sein muss, damit das Publikum nach einem langen Arbeitstag den Faden nicht verliert. Ihre fachkundigen Blicke werden in einem Film bestimmt noch etwas entdecken, das einen ihrer Zuschauer irritieren könnte (auch wenn Grundsätzliches schon vor der fünften Drehbuch-Fassung geklärt wurde).

Wer als Regisseur ein eigenes Projekt realisieren möchte, muss sich auf die verschiedenartigsten Ansprüche einstellen, muss in den Produktionsdossiers und den Begleitbriefen unterschiedlichste Gewichte setzen, je nach Adressat.

Wenn der Film zwei Jahre später in die Kinos kommt, wird sich niemand mehr an die Argumente erinnern, die er damals herausgestrichen hatte – zudem befasst man sich dann längst mit neuen Projekten.

Das sog. Filmische, die selbstverständlich gewordenen Konventionen des Kinos, mit den üblichen Formen der Zergliederung.

Immer wieder bin ich erstaunt, dass Spielfilm-Regisseure kaum von der Art der Darstellung sprechen, wenn sie von einem anstehenden Projekt erzählen. Ihr Interesse scheint ganz der Geschichte zu gelten, die der Film erzählen soll; die Formen der Darstellung scheinen ihnen nicht wichtig zu sein. Während den Dreharbeiten wird immer noch Zeit sein, um sich um das Filmische zu kümmern. Zudem scheinen viele unter dem Filmischen nur die Kino-Konventionen zu verstehen, die Formen der Darstellung, die sich international durchgesetzt haben – das, was ihnen ohnehin selbstverständlich ist.

Fern ist ihnen der Gedanke, dass ein Film aus einzelnen Einstellungen gebaut ist, dass man sich beim Schreiben des Drehbuchs überlegen könnte, wie aus dem Zusammenfügen der Einstellungen Sinn entsteht – dass da eigentlich die wichtigen Entscheide beim Aufbau des Films liegen würden.

Wenn Regisseure bei ihren Schilderungen konkreter wurden, sprachen sie vom Inhalt der Dialoge. Besonderes Gewicht schienen vor allem die Dialog-Teile zu haben, durch die die Handlung eine besondere Wendung nehmen würde – oft überflüssige Sätze, die die Moral der Geschichte auch noch einer zentralen Figur in den Mund legen. (Sicher ist sicher. Für die Werbung und die Filmkritik zum Zitieren bereitgestellt.)

Auch mit der hohen Kunst der Découpage würde man sich erst bei der Realisierung des Films befassen. Am Ort des Geschehens, wird sich der Regisseur mit dem Chefkameramann an die Planung der Découpage machen – der Zerlegung der Handlung in Einstellungen, Bildausschnitte, Distanzen, Perspektiven, Kamera-Standorte, Kamera-Bewegungen. Und dies mit entsprechender Lichtgestaltung (Atmosphäre des Raumes, Glanzlichter in den Augen der Darsteller/Darstellerinnen). Eventuelle subjektive Einstellungen – Gesichter und Blicke, Schnitte und Gegenschnitte – das ganze Zusammenwirken der Découpage mit dem Spiel der Darsteller/Darstellerinnen.

Solche Szenen gehören zum Unauffälligsten eines Films. Als filmische Elemente werden sie vom Publikum kaum wahrgenommen. Die Zuschauer sind so stark in das Spiel der Beziehungen einbezogen, dass sie nur noch miterleben und mitfühlen. Ein bewusster Blick auf die Szene, auf die Art der Darstellung, ist so kaum möglich. (Nur die Cutter im Publikum haben einen Blick für die Raffinessen solcher Formen.)

Was ist schon die Gestalt eines Films, gemessen am Glanzlicht einer Découpage? Welch ein Verlust, wenn Cutter die Hohe Kunst ihrer Profession nicht an den Découpagen beweisen können! Oft scheint mir, sie würden dem Aufbau der Filme wenig Gewicht beimessen, der Folge von Szenen, die das Drehbuch vorgibt. Ihnen überlassen bleiben ja nur die selbstverständlichen Kleinigkeiten, das Setzen der Schnitte entsprechend den Gepflogenheiten der Branche. Und eben, die Découpagen.

Brigitte Sousselier, Cutterin des Films «Jonas» von Alain Tanner schildert in unserem Film «Cinéma mort ou vif?» die Arbeitsweise in der industriellen Filmproduktion:
«An der Montage eines solchen Industrieprodukts arbeiten oft 9 oder 10 Personen in 3 oder 4 Schneideräumen. Der Regisseur und der Produzent kommen dann in der Woche für eine bis zwei Stunden vorbei, um nach dem Stand der Arbeit zu sehen.» (Schliesslich gebe es ja ein Drehbuch, an das man sich zu halten habe. Alain Tanner sei die ganze Zeit dabei, doch auch bei ihm sei das Drehbuch die verbindliche Orientierung.)

Formen der Darstellung.
Formen der Betrachtungsweise.

Ein Bild in einem Spielfilm (übliches Kino-Breitformat) – ein Bild, das niemandem auffallen wird. Zwei Männer stehen sich gegenüber, im Profil aufgenommen, Ausschnitt bis zu den Schultern, etwa dreissig Zentimeter Distanz zwischen ihnen. Das Bild ist Teil einer Szene, die durch die Découpage in zehn Einstellungen zergliedert wurde. Ich stelle mir vor, wie das Bild bei den Dreharbeiten entstanden sein könnte, wie die beiden Darsteller näher und näher zueinander geschoben wurden, bis sich ein gefälliges Bild ergeben hatte.

Wenn die Szene nicht in einzelne Einstellungen zerstückelt, sondern als Ganzes aufgenommen worden wäre, hätten die beiden Männer etwa einen Meter Abstand zueinander gehalten – einen Abstand, der in unserer Gesellschaft üblich ist.

Das Publikum ist die Kino-Konvention der Découpagen so gewohnt, dass sich niemand fragt, welche Bedeutung ein Bild wohl haben mag, in dem zwei Personen so nahe zueinander stehen (und zwar zwei Personen, die sich voraussichtlich im nächsten Moment der Filmhandlung nicht küssen werden).

Die Dramatik der Darstellung.

Ich bin wohl kein naiver Medienkonsument. So war es etwas seltsam, dass ich mich an eine Szene eines Fernsehbeitrags erinnerte, ohne mir bewusst zu sein, dass es sich um eine Montage aus der üblichen Folge von Einstellungen gehandelt hatte. Normalerweise erinnere ich mich an das, was ich wirklich gesehen habe, an die verschiedenen Elemente, mit denen ein Geschehen dargestellt wurde. Hier hatte ich mich erinnert, wie ein normaler Fernsehzuschauer, wie wenn ich in dieser Situation anwesend gewesen wäre, es selbst gesehen hätte.

Die Rede ist von einem Beitrag der populären Sendereihe «Die versteckte Kamera», die zwischen 1974-1981 vom Deutschschweizer Fernsehen produziert wurde. Man hatte sich einen Spass daraus gemacht, irritierende Situationen zu schaffen und Passanten mit versteckter Kamera zu beobachten.

In einer dieser Sendungen ein Modellflugzeug in der Luft, dann ein Mann, der einem Passanten die Fernsteuerung seines Flugzeugs in die Hände drückt und sagt, er werde gleich zurück sein. Nach einiger Zeit beginnt der Unglückliche nach dem Mann zu rufen, immer wieder «Er söll emol cho!», «Söll emol cho!» Der Satz wurde damals zu einem geflügelten Wort.

Vor kurzem wurden am Fernsehen Glanzlichter aus dieser Reihe gezeigt. Erst da fiel mir auf, dass diese Sequenz aus kurzen Einstellungen zu einem selbstverständlich wirkenden Eindruck eines Geschehens montiert worden war:

Der Passant mit der Fernsteuerung / das Modell-Flugzeug in der Luft / ein Mann, der die wirkliche Fernsteuerung bedient / das Flugzeug in gefährlich wirkendem Sturzflug / der rufende Mann mit der Fernsteuerung / das Flugzeug / der rufende Mann / das Flugzeug …

Eine Situation, die sich wohl über längere Zeit hingezogen hatte, war durch die Montage zu einem dramatischen Geschehen verdichtet worden – auf Kosten des verzweifelt rufenden Mannes, zu meinem damaligen Amüsement.

Andy Warhol:

«beim Verstreichen der Zeit zusehen können»

1963/1964, Andy Warhol und die Dauer von Einstellungen.

«Empire»

Der Film wurde in der Nacht vom 25. auf den 26. Juni 1964 im 16mm-Format gedreht. Dauer 485 Min. Gedreht wurde mit 24 Bildern pro Sekunde, vorgeführt mit 16 Bildern pro Sekunde.

Der Schwarzweiss-Stummfilm zeigt aus unbewegter Perspektive die oberen Etagen und die Spitze des Empire State Building in New York von 20.06 Uhr bis um 2.42 Uhr.

«Sleep»

Der Film wurde im Juli 1963 im 16mm-Format gedreht.

Der Schwarzweiss-Stummfilm zeigt fast 6 Stunden den schlafenden Beat-Poeten John Giorno.

Der Film zeigt nicht im Verhältnis 1 zu 1 dessen Schlaf, im Film sind rhythmisch auch 'Loops' von einzelnen Sequenzen eingesetzt.

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Warhols Mitarbeiter Paul Morrissey realisierte Filme, zu denen Warhol nur noch den Namen hergab. Im Gegensatz zu Warhols frühen Filmen wurden diese US- und europaweit gezeigt. Diese Filme waren nicht mehr mit der Konsequenz von Warhols Konzeptkunst realisiert, enthielten aber auch Einstellungen von langer Dauer, die uns faszinierten, ein vollkommen neues Erleben des Kinos.

1972, Dokumentarfilm von H.D. Grabe.

Einstellungen von über vier Minuten.

«Mendel Schainfelds zweite Reise nach Deutschland». Dokumentarfilm von Hans-Dieter Grabe, 43 Min., Farbe.

Anfang des Films: Bahnhof in Oslo. Blick in ein Eisenbahnabteil, von aussen aufgenommen; der Reisende richtet sich für die Reise ein.

Dazu der Kommentar-Text: «Mendel Schainfeld, 49 Jahre, Jude, geboren in Polen. Von Oslo, wo er heute wohnt, fährt er nach München. Anderthalb Tage wird er unterwegs sein. Es ist Mendel Schainfelds zweite Reise nach Deutschland.»

In das Bild einkopierter Filmtitel «Mendel Schainfelds zweite Reise nach Deutschland».

Weiterer Kommentar: «Seine erste Reise war 1945 nach seiner Befreiung aus einem Konzentrationslager in Polen. () Die Ärzte stellten fest, dass seine Leiden Folge seiner KZ-Haft seien. Von einem westdeutschen Entschädigungsamt erhielt er daraufhin eine kleine Rente.

Seine Leiden verschlimmerten sich. Norwegische Ärzte bescheinigten ihm den fast völligen Verlust seiner Arbeitsfähigkeit. Mendel Schainfeld beantragte von der Bundesrepublik eine höhere Rente. Sein Antrag wurde abgelehnt. So fährt er zum zweiten Mal nach Deutschland, um sich in München einem ärztlichen Gutachter zu stellen. Er leidet unter Schlafstörungen, Angstträumen, Schwindelanfällen, Gleichgewichtsstörungen, Depressionen, Kopfschmerzen, Rückenschmerzen.»

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Bilder des Films:

Mendel Schainfeld zu Beginn des Films im Abteil des stehenden Zuges in Oslo.

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Am Ende des Films steigt er in München aus dem Zug, entfernt sich auf dem Perron.

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Dazwischen die Fahrt: Mendel Schainfeld während der Fahrt – er spricht über das, was er im Konzentrationslager erlebt hat – ungewohnt lange Einstellungen, teils durch einen Schnitt direkt aneinandergefügt, teils durch Bilder der vorbeiziehenden Landschaften getrennt.

(Weil es nicht den Film-Konventionen entspricht, scheint mir erwähnenswert, dass seine Aussagen nie ins Off hinübergehen, nie auf den vorbeiziehenden Landschaften beginnen oder enden. Wenn er spricht, ist er im Bild zu sehen.)

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Ich empfand die ungewohnte Dauer der Einstellungen nicht als störend. Im Gegenteil, wenn eine dieser Einstellungen endete, beschäftigte mich das Gehörte so stark, dass ich keinen Blick für die vorbeiziehenden Landschafts-Aufnahmen hatte. Es kann auch sein, dass diese Wirkung noch verstärkt wurde, weil sich Mendel Schainfeld nie den Landschaften draussen vor dem Fenster zuwandte. Die Kamera zeigt die Landschaften, die er nicht beachtet. Keine prägnanten Sujets. Wir fahren durch Deutschland, doch das ist nicht von Interesse – unser Interesse gilt dem, was Mendel Schainfeld schildert, gilt seiner Vergangenheit.

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Im Film 22 Einstellungen, in denen Mendel Schainfeld erzählt – von dem, was er im Konzentrationslager erlebt hat, von dem, was ihn immer noch beschäftigt (total 17 Min.). Am längsten zwei sich direkt folgende Einstellungen von 7.53 Min. (3.25 Min. und 4.28 Min.).

Welche Anmassung wäre es gewesen, Mendel Schainfelds Aussagen auf 'das Wesentliche' zu verkürzen, sein Stocken, sein Schweigen, seine Wiederholungen wegzuschneiden. Die Zuschauer hätten sich bald auf die verkürzenden Schnitte eingestellt, die Aussagen hätten auf 30 Sekunden reduziert werden können, denn das hätte genügt, um 'die Informationen' zu vermitteln.

Damit das nicht Theorie bleibt, hier der Text einer der Aussagen aus dem Film:

Eine Einstellung (3.22 Min.): Mendel Schainfeld frontal, Handkamera, Zoom in den Bereichen von Nah bis Gross:

«Ein Arbeitskamerad von mir, der neben mir geschlafen ist, der ist in der Nacht gestorben. Ich weiss nicht obs von den Schlägen war – denn der Meister war sehr aufgeregt, hat ihn heftig und lange geschlagen, bevor wir in die Baracke gingen.

Und abends haben wir ein Stückchen Brot bekommen, jeder hat ein Stückchen Brot bekommen und er hat das Brot nicht gegessen. Als ich am nächsten Morgen aufgestanden bin, da lag das Brot und ich habe gesehen, dass der Mann tot ist, er war ganz kalt. Da habe ich das Brot genommen. Warum – ich habe ein solch schlechtes Gewissen, ich konnte nicht widerstehen, ich hatte Hunger (weint). Bitte entschuldigen Sie. – Ich hatte Hunger.

Ich war wie ein Tier. Alle andern auch. Manche haben für einen Zigarettenstummel das letzte Stückchen Brot weggegeben – ich habe das nie getan.

Aber ich habe ein schlechtes Gewissen – warum habe ich das Brot von ihm genommen?

Ich hatte Hunger. Ich glaube - ich habe ein schlechtes Gewissen, aber andrerseits – ich konnte es nicht sein lassen – ich hatte immer Hunger, auch die anderen hatten Hunger. Aber ich – ich selbst weiss, dass ich Hunger hatte. Ich habe manchmal versucht, Gras zu essen, habe es auch getan, es war aber nicht dasselbe.

Brot, Brot, Brot, waren meine Gedanken – mal satt werden. Und da habe ich das Brot von dem verstorbenen Mann genommen, leider – vielleicht werde ich deswegen jetzt bestraft, sodass ich nicht arbeiten kann – etwas Schlimmes ...»

H.D. Grabe: «Ich denke nicht, dass Sie daran denken sollten. Sie haben ja nichts Böses getan.»

M.Sch.: «Es kommt aber von selbst. Ich will nicht daran denken, aber das Schuldgefühl ist da – warum hast du das Brot genommen? Vielleicht wäre ein anderer Häftling, der es vielleicht ...

Ich habe das Brot genommen, ohne daran viel zu denken, ich hatte Hunger, da habe ich das Brot geklaut – ich habe geklaut – ich hatte Hunger. Das war der einzige Gedanke – leben und mal satt sein. Ein Mal satt werden, und dann habe ich gedacht: Ruhig sterben, aber satt – nicht Hunger, sondern satt.»

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Damals, Heute.

Was wäre, wenn dieser Film jüngeren Leuten eines heutigen Publikums vorgeführt würde? Sässen ihnen die Wünsche nach einem nächsten Schnitt, einem nächsten Bild, allzu tief in den Knochen, um Einstellungen von solcher Dauer zu ertragen? Wie würden sie damit umgehen, wenn der erwartete Schnitt nach 5 Sekunden nicht kommt, auch nach einer Minute nicht, wenn eine Einstellung dauert und dauert? Könnten sie noch aufmerksam zuhören oder würden sie nur noch darunter leiden, dass der Schnitt ausbleibt?

Der Film über Mendel Schainfelds Reise wurde zwar innerhalb des Fernsehens realisiert, doch dies vor fast 50 Jahren, zu einer Zeit, als die Möglichkeiten des Fernsehen noch zu entdecken waren, als noch keine Entscheidungsträger zu wissen glaubten, was dem gewöhnlichen Volk zugemutet werden kann.

Prokrustes (1).

Auf welche Dauer von Filmen stellt sich das Publikum heute beim Fernsehen ein? Entspricht es den Publikumswünschen, wenn ein Dokumentarfilm am Fernsehen nach 52 Minuten endet? Eigentlich müsste sich das Publikum bewusst sein, dass ein Film eine Dauer hat, die sich aus der Sache und dem Interesse des Autors ergibt, dass es Akte der Gewalt sind, wenn Filme auf die 52-Minuten-Norm hergestellt oder zurechtgeschnitten werden. Die Praxis der Fernsehsender hat Publikums-Gewohnheiten geschaffen und nun beruft man sich darauf, dass das Publikums-Bedürfnisse seien, dass das Publikum einen längeren Film nicht durchstehen würde. (Und in der Mitte des Abendprogramms muss ohnehin Werbung gezeigt werden.)

Ärgerlich scheint mir vor allem, wie dafür gesorgt wird, dass das Publikum auch die zurechtgestutzten Fassungen von Filmen für Originalversionen hält.

Prokrustes (2).

Werden die Aufzeichnungen von Fussballspielen bald auf 52 Minuten zurechtgeschnitten (inkl. 2 Min. Pausen-Werbung)? Oder werden die Fussballspiele selbst nur noch 50 Minuten dauern?

Für das Tennis wurden 2020 schon Regeln für kurzweiligere Turniere erfunden, um dem Fernsehpublikum die stundenlangen Spiele zu ersparen.

Wer sich für Eishockey interessiert, ist schon die Powerbreaks gewöhnt, innerhalb jedes Drittels eine Werbe-Unterbrechung (in den USA üblich, sonst erst bei Weltmeisterschaften; doch das wird sich wohl bald auch hierzulande etablieren).

Zeit und Raum.

Da ich mich intensiv mit «Mendel Schainfelds zweite Reise nach Deutschland» befasste, fiel mir an diesem Film etwas auf, das nicht im Zusammenhang mit der Thematik dieser Texte steht, das mir aber zu allgemeineren Fragen der Filmgestaltung erwähnenswert scheint.

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M.Sch. spricht von dem, was er in einem Konzentrationslager erlebt hat und was ihn immer noch beschäftigt. Bei all diesen Aufnahmen ist er von der linken Seite aufgenommen – die Kamera bewegt sich von Profil-Aufnahmen bis zu frontalen Aufnahmen, doch nie darüber hinaus – nie zeigt sie ihn von seiner rechten Seite.

Wenn wir ihn im Profil sehen, ist manchmal auch ein Ausschnitt des Fensters zu sehen, doch ist dieser Teil des Bildes so stark überbelichtet, dass vom Draussen nichts zu erkennen ist – reines Weiss (nichts zu sehen, was zur Orientierung der Zuschauer beitragen könnte).

Zwischen die Aussagen von M.Sch. sind Einstellungen der Landschaften montiert, die von rechts nach links vorbeiziehen; so ist nicht zu übersehen, dass M.Sch. gegen die Fahrtrichtung gerichtet sitzt.

Konventionen unserer Kultur.

Die Handschrift, links klar begrenzt,
rechts offen, wie es sich vom Inhalt her ergibt.
Die Bilder in unserer Kultur
geprägt von unserer Schrift.

Links die Begrenzung, rechts die Offenheit –
links die Herkunft, rechts das Unbekannte, die Ferne.

Und in zeitlicher Orientierung,
links die Vergangenheit, rechts die Zukunft.

Wir wissen nicht, warum sich M.Sch. gegen die Fahrtrichtung des Zuges gesetzt hat, mit den Rücken zum Ziel seiner Reise (auf Wunsch des Filmautors?). Ob bewusst oder unbewusst, das Bild hat seine Wirkung auf uns Zuschauer. Wir hören nicht nur was M.Sch. zu seiner Vergangenheit sagt, sondern sehen dazu auch das Bild eines Menschen, der zurück schaut, der der Vergangenheit zugewandt ist.

Neben dieser symbolischen, ist jedoch auch eine konkrete Betrachtungsweise möglich – sich nicht in der Zeit, sondern im Raum orientierend – links Norwegen, rechts München. So ist der Blick von M.Sch. nicht nur in die düstere Vergangenheit des Konzentrationslagers gerichtet, sondern auch zurück nach Norwegen, wo er jetzt herkommt, seiner neuen Heimat, seinem heutigen Heim (und seiner Ehefrau – was ich damals noch nicht wusste, erst aus dem späteren Film «Mendel lebt» von H.D. Grabe erfahren habe).

*

Diese Gestaltungsprinzipien sind einfach nachvollziehbar, solange man sieht, wie die Landschaften von rechts nach links vorbeiziehen und der Darsteller nach links blickt, mit dem Rücken zum Ziel seiner Fahrt. Doch welche Bedeutung hätte das Bild für uns, wenn der Vorhang am Fenster des Eisenbahnwagens geschlossen wäre, wenn wir keine Landschaften sehen würden, die von rechts nach links vorüberziehen?

Wir würden annehmen, dass der Mann auf dem Heimweg ist – nach links, wohin er auch blickt.

Es wäre nicht einfach, eine Form der Darstellung zu finden, die vermittelt, dass dieser Mann mit dem Rücken zu seinem Ziel unterwegs ist. Ohne Aufnahmen des Zuges in der Landschaft wäre es wohl nicht zu machen.

Die Dauer der Einstellungen.
Der Rhythmus des Lichts in den Strassen der nächtlichen Stadt.

«Ende der 1950er Jahre entschied man sich beim WDR, aufgrund der grossen Erfolge der mehrteiligen Paul-Temple-Hörspiele von Francis Durbridge dieses Format auch im Fernsehen umzusetzen. () Es wurden mehrteilige Kriminalfilme produziert, die wie die Hörspiele auf Drehbüchern des britischen Kriminalschriftstellers Durbridge basierten. ()

Im Januar 1962 lief der dritte Durbridge-Sechsteiler 'Das Halstuch' über die Bildschirme und löste eine nie da gewesene Begeisterung in allen Bevölkerungsschichten aus. Das Bild völlig leer gefegter Strassen an Sendeterminen der Durbridge-Reihe sorgte dann schliesslich für die Entstehung des Begriffs 'Strassenfeger'. ()

Die durchschnittliche Sehbeteiligung lag bei 89%. Ein Jahr später lag die Quote beim letzten Teil der Serie 'Tim Frazer' sogar bei 93%.»

Ausschnitte aus dem Wikipedia-Text 'Strassenfeger'. (Einschaltquoten BRD)

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In den Anfangszeiten des Fernsehens ging ich mit Kollegen in ein Tea-Room, um die Übertragung eines Fussballspiels zu sehen. Es muss ein religiöser Feiertag gewesen sein, jedenfalls wurden wir empört abgewiesen, man schalte doch an einem Feiertag den Fernsehapparat nicht ein. Doch es ging nicht lange, bis die Fernsehapparate in den Wohnungen so üblich geworden waren, wie einige Zeit davor die Kühlschränke.

Es gab Abende, an denen die Stadt fast menschenleer schien. Seltsam unwirklich die Strassenzüge mit den bläulich schimmernden Vorhängen in den Fenstern, die miteinander die Helligkeit wechselten.

Ich glaubte mich an Helligkeitswechsel von wenigen Sekunden zu erinnern, doch dann habe ich in einzelne Sendungen von damals reingeschaut (im Internet unter dem Stichwort 'Strassenfeger').

Die totaleren Filmbilder von Räumen mit mehreren Personen dauerten 15 bis 20 Sekunden, die Nahaufnahmen 3 bis 5 Sekunden. Es mussten solch gemächliche Schnittfolgen gewesen sein, die das Strassenbild für eine halbe Stunde geprägt hatten.

Es waren übrigens nicht Filme, sondern sogenannte Fernsehspiele, deren Dramatik weitgehend von Dialogen bestimmt war. Die meisten Bilder in Fernsehstudios mit den dort üblichen Kameras aufgenommen (in den Anfängen noch schwarz/weiss, bald in Farbe).

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Seit unzählige Fernsehsender zur Wahl stehen, sind in den nächtlichen Strassen keine solchen Licht-Spiele mehr zu erleben. Einzig während Fussball-Weltmeisterschaften wäre Ähnliches noch vorstellbar; sogar wer sich dem Vokabular und den emotionalen Ausbrüchen von Kommentatoren entziehen will, wird einen anderen Sender mit derselben Bild-Übertragung finden. Allerdings wären die Helligkeitsunterschiede bei der Übertragung von einem Fussballfeld auch zu klein und das Akustische inzwischen so dominant geworden, dass sich kaum noch jemand einem feinen Lichtspiel in den Strassenzügen zuwenden würde.

Kinetik.

Filme auf der grossen Leinwand – in der Volksheilkunde anerkannte Therapie, um erschlafftes oder verhärtetes Zwerchfell in Bewegung zu bringen. Die Tatsache, dass ein Film den Weg ins Kino gefunden hat, ist noch keine Garantie für seine Wirksamkeit. Nur wenn Patienten den Film finden, der ihren besonderen Vorlieben entspricht, ist eine optimale Wirkung zu erwarten. Dem Zwerchfell ist es egal, durch welche Art emotionaler Erschütterung es in Bewegung gebracht wird, ob durch Heiterkeit, Schmerz oder andere Gefühlsaufwallungen.

Einen Tag, nachdem ich diesen Text geschrieben hatte, fiel mir ein Kinoinserat des Verleihs Frenetic auf, in dem ein Film mit fünf zitierten Worten aus einem Magazin der Kinobranche angepriesen wurde:
«Zwischen Spannung, Lachen und Tränen» (screendaily.com).

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Autorenfilme.

Es gibt Kinofilme die bewegend sind, doch darüber hinaus noch anderes leisten. ('Autorenfilme', sich am französischen Cinéma d'auteur orientierend, in dem der Autor allein für Inhalt und Form der Filme verantwortlich war, vom Drehbuch bis zum Schnitt.) Beispielsweise «Höhenfeuer» von Fredi M. Murer.

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Publikumsfilme.

Dann die besonders beschaffenen Filme für ein Publikum, das sich verpflichtet fühlt, sich mit bestimmten Themen befassen zu müssen, um sich die kulturelle Bildung zu beweisen, die sein Selbstverständnis fordert. Zufällig herausgegriffene Filme aus dem grossen Angebot dieser Gattung: «Zwingli», «Die göttliche Ordnung», «Giovanni Segantini – Magie des Lichts», «Das Kongo Tribunal», «Die letzte Pointe».

Für die Produzenten von Vorteil ist, dass sich solche Projekte leichter finanzieren lassen. Es müssen keine Argumente gefunden werden, die Themen sprechen für sich. So muss auch kein Aufwand betrieben werden, um eine originell wirkende Art der Darstellung zu erfinden, das angemessen grosse Publikum ist ohnehin garantiert, auf das die Filmförderung ausgerichtet ist.

Sogenannte Volksweisheit, in diesem Bereich oft zutreffend

«Das Gutgemeinte ist das Gegenteil des Guten.»

Offenheit.

Weiterbildungskurs «Das sog. Interview im Dokumentarfilm», den ich organisierte und leitete.

Nachdem wir davon gesprochen hatten, wie die Autoren-Interessen die Filmen prägen, berichtete Jürg Hassler von seiner Filmarbeit. Unter anderem betonte er, dass er die Kamera erst einschalte, wenn der Protagonist vor der Kamera etwas sagen wolle, das diesem wichtig sei.

Ich bin zwar nicht der Ansicht, dass dies die einzig mögliche Haltung ist, die die Aussagen eines Potagonisten bestimmen soll, doch Jürgs Haltung ist mir wichtig, weil sie bedeutet, dass der Filmautor nicht starr an einem filmischen Vorhaben festhält, sondern dem Film auch ein Eigenleben zugesteht.

Oder noch deutlicher: Jürgs Haltung auch als Warnung, einen Protagonisten nicht zu missbrauchen, um eigene filmische Vorstellungen zu realisieren.

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Dauer der Einstellungen – Möglichkeiten zunehmender Offenheit.

Je länger eine Aufnahme dauert, desto schwächer wird der Einfluss des Filmautors, der eine Frage gestellt oder ein Thema vorgegeben hat. Doch da bleibt noch immer der Blick des Autors hinter der Kamera – der Blick, den der Protagonist mit den Erwartungen in Verbindung bringt, die Ausgangspunkt dieser Aufnahme waren. Doch wenn man den Protagonisten in Ruhe lässt, sodass er sprechend vom einen zum andern kommen kann, können sich inhaltliche Verbindungen ergeben, auf die der Filmautor nicht gekommen wäre.

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Filme, in denen etwas zu entdecken ist, gesehen, gehört werden kann.

Andrerseits Visualisierungen, die sich in den Dienst einer Botschaft stellen.

Wenn ein Dokumentarfilmer an ein Thema herangeht, um es in seiner Vielfalt filmisch darzustellen, zeigt sich diese Vertiefung in jedem Detail des Films. Es scheint, dass solch strukturelle Qualitäten den Förderkommissionen und der Filmkritik eher fremd sind. Man hält sich an die wichtigen Aussagen – an Filme, über deren Botschaft sich die Macher schon klar waren, bevor sie die Drehvorlage verfassten, bevor sie sich an deren Finanzierung machten. Danach ging es nur noch um die Visualisierung – es mussten nur noch die passenden Bilder gefunden werden, um den Inhalt zum Publikum zu transportieren.

Szenen und die Formen ihrer Zergliederung.
Sichtbare und verborgenen Schnitte.

Es kann einem Regisseur wichtig sein, die Zuschauer ohne Unterbrechung an einer länger dauernden Szene teilhaben zu lassen – an der Einheit einer Bild-Ton-Aufzeichnung – einer plan-séquence.

'Plan-Séquence' – eine Einstellung, die eine ganze Szene umfasst.

Eine Aufnahme ohne Schnitt – statisch oder mit Kamera-Bewegungen den Raum erkundend oder einer Person folgend – Wechsel des Bildausschnitts, der Perspektive.

Innerhalb einer Einstellung ein Schnitt, der verborgen bleiben soll.

Beispiel eines Bewegungs-Schnitts: Wenn eine Person von einem Stuhl aufsteht, ist die Aufmerksamkeit des Publikums auf die Person und ihre Bewegung konzentriert, sodass es nicht bemerkt, dass mitten in der Bewegung ein Schnitt liegt, ein Wechsel zu einem anderen Blick auf das Geschehen – anderer Bildausschnitt, anderer Kamerastandort.

Auch wenn der Schnitt nicht wahrgenommen wird – mit dem unauffälligen Wechsel zu einem anderen Blick auf das Geschehen verändert sich die Bedeutung des Bildes. So kann ein solcher verborgener Schnitt auch eine diskrete Art sein, die Bedeutung einer Szene zu verändern.

Innerhalb einer Einstellung ein Schnitt, der sich nicht zu verbergen sucht.

Nicht ein Schnitt in einer Einstellung, der die Bewegung einer Person nutzt, um unauffällig zu einem anderen Blick auf das Geschehen zu gelangen, sondern ein Schnitt, der sich nicht zu verstecken sucht – ein offen liegender Schnitt zu einem andern Blick auf das Geschehen, einem anderen Bildausschnitt, einer anderen Perspektive (einer anderen Bedeutung der Szene).

Ohne Veränderung von Bildausschnitt und Perspektive würde der Schnitt von den Zuschauern als Störung empfunden (wenn sie ihn überhaupt bemerken). Viele würden sich einfach darüber hinwegsetzen, weil sie Unvollkommenheiten gewohnt sind. Einzelne würden sich zurechtlegen, dass ein Filmvorführer einen beschädigten Teil aus der Kopie des Films herausgeschnitten haben könnte.

Wie man merkt, spreche ich hier von den Zeiten, als in den Kinos noch 35mm-Filme vorgeführt wurden.

Damals waren die Filme in mehrere Rollen aufgeteilt und wurden so an die Kinos gesandt. Vor der ersten Kino-Projektion wurden am Anfang der Rollen die Start-Teile und an deren Ende die Schwarzfilm-Allongen weggeschnitten, damit die Rollen direkt hintereinander montiert werden konnten. Dabei wurde das erste und das letzte Bild der Filmrolle weggeschnitten und am Start / an der Schwarzfilm-Allonge belassen, damit diese Teile nach der Vorführung – vor dem Versand an das nächste Kino – wieder an die richtige Kopierrolle (beschriftet mit der entsprechenden Nummer) geklebt werden konnten.

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Verrückt war, dass Vorführer in den Ausbildungskursen lernten, dass das erste und das letzte Bild jeder Rolle weggeschnitten und an der Allonge belassen werden muss, ein Wissen, das die Vorführer als Inbegriff ihrer Professionalität betrachteten.

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Ich wusste natürlich davon, habe daher die Szenen vor und nach der Rollentrennung um dieses eine Kader verlängert, das die Vorführer wegschneiden würden.

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Solothurner Filmtage. Der Filmautor Daniel Schmid und der Darsteller seines Films Rainer Werner Fassbinder liessen sich vor dem Film vom Publikum feiern. Während des Films würden sie etwas trinken gehen, sagten sie und gingen aus dem Saal, liessen die Zuschauer mit dem Film allein. - Die Rollen des Films waren aber nicht in der richtigen Reihenfolge montiert worden. Ich brauchte zwar einige Zeit, bis ich sicher war, dass das keine besonders anspruchsvolle Montage war, sondern dass da etwas nicht stimmen konnte. Ein Teil des Publikums versuchte der etwas wirren Handlung noch länger einen Sinn abzugewinnen, jedenfalls bis der Abspann mit den Namen der Darsteller und Techniker auf der Leinwand erschien und der Film danach weiterging.

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Es kam vor, dass ein etwas bequemer Vorführer nach der Projektion die Scotch-Klebestelle zwischen den Filmrollen nicht auflöste, sondern einfach ein Bild wegschnitt – es ging ja nur um eine Vierundzwanzigstels-Sekunde. So wurde die Filmkopie mit der Zeit immer etwas kürzer und die Filmhandlung bei diesem Umschnitt zur nächsten Rolle etwas holpriger.

Solche Vorführer dachten wohl kaum daran, dass sie mit diesem Bildschnitt den Ton einer Handlung wegschneiden, die erst eine Sekunde später folgen wird, beispielsweise den Anfang eines Dialogs.

(Was Leser nicht wissen müssen: Auf der Randspur der Filmkopie ist der Ton 20 Kader vor dem dazu gehörenden Bild aufgezeichnet. Für den Moment der Projektion müssen die Bilder kurz zum Stehen kommen; so wird der Film an dieser Stelle ruckartig fortbewegt, von Bild zu Bild. Für die Abtastung des Tons muss die Filmkopie hingegen in gleichmässiger Fortbewegung über die Lichtton-Abtastung laufen. So können Projektion und Ton-Abtastung nicht an derselben Stelle sein, liegen 20 Kader auseinander.)

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Ein Vorführer zeigte mir stolz sein Schatzkästchen. Er hatte von den Filmklassikern, die durch seine Hände gingen, ein Bild für seine Sammlung behalten.

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Zurück zum Schnitt, der sich nicht zu verbergen sucht, der innerhalb der Szene so angelegt ist, dass ihn ein aufmerksamer Zuschauer bemerken wird – eine offen liegenden Form der filmischen Erzählweise, der filmischen Grammatik – was auch eine klare Einladung zu einem neuen Blick auf das Geschehen ist.

Durch den Ton, der über den Schnitt hinweg führt (Filmmusik oder ein Dialog im Hintergrund), wird deutlich, dass der Schnitt kein Zeitsprung ist – das Davor und das Danach über den durchgehenden Ton zu einer zeitlichen Einheit verbunden.

Unterschnittene Einstellungen (unauffällig).

Eine längere Einstellung, durch eine kurze Einstellung unterbrochen, geteilt in ein Davor und Danach. (Die längere Einstellung wurde 'unterschnitten'.)

Dazwischen geschnitten ein Bild, dem in der Handlung keine besondere Bedeutung zukommt, über das die Zuschauer leicht hinwegsehen können (beispielsweise die Hände der sprechenden Person, die davor und danach zu sehen ist). Oft nur als Verlegenheitslösung eingesetzt, um eine Handlung unauffällig zu kürzen.

Die Art Schummelei, wie man sie von Kurzberichten des Fernsehens kennt – die Aussage einer Person auf diese Weise gekürzt und/oder vereinfacht (auf einen Punkt gebracht). Damit verbunden auch das übliche Bemühen des Fernsehens, die Arbeit am filmischen Material zu verbergen – einen Eindruck von Unmittelbarkeit zu erzeugen, sodass sich das Publikum zur Art der Berichterstattung keine Fragen zu stellen beginnt.

Unterschnittene Einstellungen (auffallend).

Auch hier: Eine längere Einstellung, unterschnitten durch eine kurze Einstellung, geteilt in ein Davor und Danach. Doch hier hat die dazwischen geschnittene Einstellung eine Bedeutung für die Handlung des Films. Beispielsweise ist erst durch diese Grossaufnahme zu erkennen, was die Person in den Händen hält – ein wichtiges Element der filmischen Erzählung.

Allerdings wäre es besser, wenn im Film keine solchen Grossaufnahmen benötigt würden – das Publikum könnte sich als dumm, mindestens aber als unaufmerksam behandelt fühlen. Oder es ist gewohnt, bei der Hand genommen und durch Filme geführt zu werden.

Schnitte innerhalb einer gleichbleibenden Einstellung.

Wenn in einer längeren Einstellung – beispielsweise mit einem Zoom-Objektiv aufgenommen – durch einen Schnitt von einer Halbtotalen zu einer Nahaufnahme gewechselt wird, stört es niemanden, doch hier ist die Rede von einer unveränderten Cadrage.

Es gilt mindestens als unprofessionell, wenn zwei Bilder mit gleichbleibendem Ausschnitt aneinander montiert werden, doch ist es immer wieder zu sehen – vorallem bei Grossaufnahmen, wenn knapp vor einer gleich einsetzenden (heftigen und das Bild dominierenden) Handlung geschnitten wird.

Bei totaleren Einstellungen werden solche Schnitte üblicherweise vermieden, weil sich während den herausgeschnittenen Sekunden im Hintergrund etwas verändert haben könnte, durch das der Schnitt unangenehm auffallen würde. (Ausnahme von der Regel: Wenn sich das Sujet in einer gleichbleibenden Einstellung so stark verändert, dass es beispielsweise als Folge von Jahreszeiten gesehen werden kann.)

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Grossaufnahme der zentralen Figur Séverine (C. Deneuve) im Film «Belle de Jour». Sie wird mit feuchtem Dreck beworfen, dieser klatscht in ihr Gesicht. Doch bei den Dreharbeiten dauerte es zu lange bis zum nächsten Wurf, also wurde die Zeit dazwischen herausgeschnitten. Ein Teil der Zuschauer wird das nicht bemerken, einige wird es stören und einige werden sich zurechtlegen, dass dies der besondere Stil der fantastischen Ebene des Films sein könnte.

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In meinen Filmen gibt es keine solchen Schnitte, ganz einfach, weil sie mir während der Zeit der Montage immer wieder auffallen würden, mich stören würden.

Für einen Filmautor ist es einfach, durch das Setzen von Schnitten einen gewünschten (politischen, emotionalen) Eindruck des Dargestellten zu vermitteln, eine Handlung oder eine Aussage mit einem Schnitt zu beenden, durch den eine bestimmte Tendenz betont wird.

Allerdings ist mit einem kritischen Blick auf einen Film zu erkennen, wenn ein Filmemacher seine Macht nutzt, um die Realität nach seinen Vorstellungen zurechtzurücken, eine Eindeutigkeit herzustellen, auf der sich sein Film einfach bauen lässt (für ein Publikum, das er nicht allzuhoch einschätzt).

Je länger die Einstellung, desto realistischer die Darstellung der Situation (inkl. die Formen ihrer Inszenierung).

In meinem 1978 gedrehten Film «Kollegen» sind viele Einstellungen von unüblich langer Dauer – Einstellungen, die sich nicht auf eine Thematik reduzieren lassen, schon gar nicht auf eine Aussage – in denen verschiedenste Positionen und Verhaltensweisen zur Darstellung kommen – auch nicht mit Schluss-Schnitten, die diese auf eine bestimmte Weise zu vereinnahmen suchen.

Der Film hat eine Dauer von 68 Min., ist auf 16mm gedreht.

Im Zentrum steht der junge Arbeiter und Gewerkschafter Peter Hodel.

Über ein Jahr hinweg Verhandlungen zwischen den Gewerkschaftern der GTCP (Gewerkschaft Textil, Chemie, Papier) und der Unternehmensleitung der Firma Siegfried. Es geht um die Form, in der hier die 43-Stunden-Woche eingeführt werden soll.

Bei den Verhandlungen mit der Unternehmensleitung Aufzeichnungen mit einer Video-Kamera, die sich relativ frei im Raum bewegt, sich jedem zuwenden kann (Travelling auf Schienen).

Im Film drei Ebenen der Darstellung:

16mm-Film in Farbe.

Der Arbeitsweg von Peter Hodel (zentrale Person des Films);

Video-Aufnahmen, schwarz/weiss.

Sitzungen, Versammlungen, Verhandlungen.

Versammlung GTCP, Sektion Zofingen.
Sitzung Sektionsvorstand.
Verhandlung zwischen Direktion und Gewerkschaftssekretären.
Sitzung Arbeiterkommission.
Verhandlung zwischen Direktion und Arbeiterkommission.
Versammlung Vertrauensleute GTCP, Zofingen.
(Peter Hodel ist an all diesen Sitzungen anwesend.)

Video-Aufnahmen, schwarz/weiss.

Peter sieht sich die Fotos an, die wir während den Sitzungen aufgenommen haben und äussert sich kritisch zu diesen Situationen, vor allem auch zu seinem eigenen Verhalten.

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Zwei Beispiele von Video-Sequenzen:

Video, s/w: Sitzung zwischen der Geschäftsleitung der Firma Siegfried und einem Gewerkschaftssekretär. Die Mitglieder der Arbeiterkommission sitzen stumm am Tisch (auch Peter Hodel):

1. Einstellung: 2 Min 36 Sek.
Dazwischen 20 Bilder schwarz.
2. Einstellung: 1 Min. 54 Sek.

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Video, s/w: Sitzung zwischen Vertretern der Geschäftsleitung der Firma Siegfried und der Arbeiterkommission (auch Peter Hodel):

1. Einstellung: 2 Min 50 Sek.
Dazwischen 12 Bilder schwarz.
2. Einstellung: 2 Min. 50 Sek.
Dazwischen 12 Bilder schwarz.
3. Einstellung: 1 Min. 53 Sek.

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Es kann sein, dass die schwarz-weissen Bilder den Charakter der Aufnahmen als Dokumente verstärkt haben.

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Wie vertraglich vereinbart, sandte ich Herrn Siegfried, dem Direktor der Firma, eine Video-Kopie des definitiv geschnittenen Films. Er genehmigte diesen.

Doch kurz darauf erhielt ich von ihm noch einen Brief. Er schrieb, er habe den Film einigen Freunden gezeigt und diese hätten ihn darauf aufmerksam gemacht, dass ich ihn äusserst negativ dargestellt hätte. Er müsse rechtliche Schritte gegen mich unternehmen, wenn ich den Film so veröffentlichen würde.

Ich schrieb ihm, er solle den Film bitte nochmals ansehen, legte auch das Protokoll der Texte aus dem Film dazu und bat ihn, mir die genauen Punkte seiner Kritik mitzuteilen.

Ich hörte nichts mehr von ihm. Der Realitätsgehalt der Aufnahmen liess sich offensichtlich nicht in Frage stellen, und da war auch keine Montage, die etwas in ein bestimmtes Licht gestellt hätte. (Vielleicht fiel ihm auch auf, dass er eine etwas problematische Figur abgab, dass seine Selbstsicherheit etwas arrogant wirken konnte.)

Dazu kam – doch das bemerkte er natürlich nicht – der Film hat vorallem eine kritische Haltung gegenüber den Gewerkschaftern und den Gewerkschafts-Funktionären.

Mit Ausnahme des ersten Films, den ich 1969 mit Marlies Graf realisiert hatte (ein satirischer Blick auf die Schweiz), standen immer Leute vor meiner Kamera, die mir nahe waren. Wenn sich meine Filme kritisch mit jemandem auseinandersetzten, dann war das immer ein Ausdruck der Sympathie, der Solidarität.

Der Direktor der Firma war für mich nicht von besonderem Interesse. Der Titel des Films ist «Kollegen», und der kritische Blick gilt Peter (seiner Ängstlichkeit), seinen Kollegen im Betrieb (ihrer Anpassung), den Funktionären der Gewerkschaft (ihrem mangelnden Verständnis für die Interessen ihrer Mitglieder).

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«Die Demokratie endet an den Fabriktoren.»

Von seiner Machart her war «Kollegen» ein Film, der auf die Aufmerksamkeit der Zuschauer vertraute, auf ihre kritischen Blicke. Darüber hinaus konnte er auch mit einer besonderen Aufmerksamkeit rechnen, weil er Einblicke in einen Bereich gibt, der sonst verschlossen bleibt. Die Machtverhältnisse kommen im Film auch zum Ausdruck, doch immerhin kann direkt miterlebt werden, was sich hinter den Fabriktoren tut (und auch innerhalb der Gewerkschaft).

Erinnerungen des Körpers –
Film-Erlebnisse, Kino-Erwartungen.

In Spielfilmen zwei grundverschiedene Formen der Montage, manchmal in demselben Film.

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Im Kino gibt es immer wieder Momente, in denen eine Bewegung durch das Publikum geht, in denen die Zuschauer vom Film (in wörtlichem Sinn) bewegt werden, sich in einer fast gemeinsamen Bewegung zurücklehnen, wieder mal tief einatmen. Oder sich vom Geschehen dort vorne auf der Leinwand fesseln lassen, sich ihm zuwenden, annähern.

Selbstverständlich geht es dabei weniger um reale Distanz und Nähe. Mit den verschiedenen Körperhaltungen verbinden sich unterschiedliche Arten der emotionalen Anteilnahme. Auch wenn die zentralen Personen gerade nicht auf der Leinwand zu sehen sind, bleibt die Identifikation der Zuschauer erhalten, denn die Film-Figuren sind ja trotzdem Teil dieses Geschehens, der Geschichte dort vorne.

*     *     *

Über Jahrzehnte hinweg sind die Einstellungen der Filme kürzer und kürzer geworden. Die schnellen Schnittfolgen scheinen nicht auf eine Bewegung des Publikums ausgerichtet zu sein, führen eher zu einem gebannten Hinblicken – Genuss einer bewusstlosen Hingabe?

In der Sekunden-Folge der Schnitte wären körperliche Reaktionen von Distanzierung und Annäherung auch gar nicht möglich. Dazu kommt, dass sich die Bilder innerhalb solcher Schnittfolgen meistens in ähnlicher Distanz und Einstellungs-Grösse halten (also auch von daher keine Voraussetzungen für Distanznahme und Annäherung).

Als es noch Filmkritiker/innen gab,

als noch jemand davon leben konnte,

als es dafür noch Raum in den Zeitungen gab,

als sich noch jemand Gedanken um die Form von Filmen machte, zu Aufbau und Zusammenhängen,

da gab es auch noch Zuschauer/innen, die den Sinn eines Films nicht nur in den zwei-drei Szenen sahen, die sie besonders berührt hatten.

Den manchmal etwas überfordernden Eindrücken kann man sich hemmungslos hingeben, denn man weiss, dass sie von einem soliden Plot getragen sind, in dem man sicher aufgehoben ist. Und wenn es doch mal etwas zu kompliziert werden sollte, konnte man sich an die momentane Szene halten, an das, was gerade berührte. Mit der Intensität dieser Zuwendung würden sich die Gefühle der Irritation auch schon aufzulösen beginnen.

*

Wenn man hört, wie sich Freunde/Freundinnen nach dem Kino über den Film unterhalten, kann man den Eindruck bekommen, es gebe so etwas wie eine unausgesprochene Vereinbarung, dass das nicht angesprochen werden soll, was am Film etwas rätselhaft war (oder waren die Irritationen schon vergessen?).

Was keine Frage des Alters sein muss.

Ich kenne das auch aus den Film-Gesprächen mit einem älteren Publikum (Art-Kino-Publikum). Offensichtlich war es von einzelnen Szenen so beeindruckt, dass es den Boden des Plots unter den Füssen verlor. Doch setzte es sich unbeirrt über die Handlungsstränge hinweg, die ihm doch allzu rätselhaft waren (und wenn ich nachfragte, um die Bedeutung einer Szene im Film zu klären, konnte das nur nerven).

Ich denke dabei beispielsweise an ein Gespräch nach dem Film «Dolor y Gloria». Sie mochten den Film, doch schnell hatten sie sich über die etwas irritierenden zeitlichen Verknüpfungen hinweggesetzt, die der Film zumutete, auch über Albertos Fantasien von seiner Theater-Inszenierung. (Mehr dazu im Kapitel «Filmkurse».)

Die Zeit im Kino.

Mir scheint, einem Teil des jüngeren Publikums falle es besonders schwer, Filme mit länger dauernden Einstellungen zu ertragen – der Körper erinnere sich an seine Kino-Erlebnisse, lebe in Erwartung des nächsten Schnitts, sehne sich nach einem nächsten Bild.

Die Zeit ausserhalb des Kinos.

Könnte ein Zusammenhang bestehen zwischen der Ungeduld gegenüber den Kino-Filmen und der Weise, mit der Jugendliche miteinander sprechen, oft ohne Komma und Punkt? Geraten sie immer wieder in Situationen, in denen eine andere Stimme die Aufmerksamkeit der Gruppe auf sich ziehen könnte, wenn sie sich zwischen zwei Sätzen ein Einatmen gestatten würden?

Oft verbindet sich das atemlose Sprechen mit einer bestimmten Sprachmelodie. Könnte es sein, dass der Jugo-Slang eine zusätzliche Möglichkeit ist, um zur gutbürgerlichen Gesellschaft etwas Distanz zu nehmen, zur etablierten Welt der Erwachsenen?

Die Dauer von Einstellungen.
Entscheide für Themen oder für Personen.

An der Wand meines Montageraums eine Weichpavatexplatte mit aufgepinnten Papieren, der Struktur des entstehenden Films. Daneben eine kleinere Platte mit schmalen Papierstreifen, den protokollierten Aussagen der Sequenz, an der ich gerade arbeitete – Grundlagen, um sich Wort für Wort damit zu befassen. Manchmal drei dieser Streifen nebeneinander – unterschiedlich lange Fassungen des Textes, unterschiedliche Möglichkeiten seines Einsatzes im Film.

Wenn mich eine dieser Text-Fassungen überzeugte, fügte ich diese Aussage in Bild und Ton am vorgesehenen Ort in den Film ein. Allmählich wurde sie zu einem festen Teil des Films. Doch während ich weiter an der Montage arbeitete, bekam ich diese Aussage immer wieder zu sehen, zu hören – begann an dieser Fassung zu zweifeln, kam auf andere Möglichkeiten, entwarf andere Text-Varianten – kürzere, erweiterte.

Sollte ich den Text doch in seiner ganzen Länge verwenden?

Auf den Anfang des Textes verzichten?

Auf den Schluss?

Auf den nebensächlichen Satz in der Mitte des Textes verzichten, ihn herausschneiden, das Davor und das Danach mit einem relativ unauffälligen Schnitt zusammenfügen, wenn mir dies (durch die Zoom-Veränderung) von den unterschiedlichen Bildausschnitten her möglich scheint?

Auf den nebensächlichen Satz in der Mitte des Textes verzichten, ihn herausschneiden und den zweiten Teil der Aussage, mit seiner anderen Thematik, an einem anderen Ort in den Film einfügen?

Oder entscheide ich mich, das eher nebensächliche Sätzchen in der Mitte der Aussage beizubehalten? So wären da nicht nur zwei thematische Inhalte – die Themen würden in diesem Moment in den Hintergrund treten, man hätte eher das Gefühl, am Leben dieses Menschen teilzuhaben.

*

Das Eigenleben eines Bildes, das Eigenleben eines Protagonisten.

*

Ohne die Präsenz des Filmers bei den Dreharbeiten, ohne die Intensität seines Hinschauens und Hinhörens, wird eine solche Aufnahme nicht entstehen. Dazu kommt aber auch, dass die Kamera schon läuft, bevor die Aussage zu erwarten ist und auch danach – wer weiss, ob noch etwas hinzugefügt wird (vielleicht viel wichtiger für den Film, als das, was der Filmautor da erwartet hatte).

*

Nicht jede solche Szene trägt schon einen Wert in sich und doch erinnere ich mich an einzelne Einstellungen in Filmen, die durch ihre besondere Dauer eine Intensität erhielten, durch das sie zu mehr wurden, als zu einem Teil des Films.

Doch damit ein solcher Eindruck entstehen konnte, durfte diese lange Szene im Film nicht als seltsamer Fremdkörper erscheinen – es musste zu spüren sein, dass sie mit den andern Formen des Films verwandt war, dass sie sich nur in etwas deutlicherer Ausprägung zeigte.

Fragmente der Darstellung,
Realität des Spiels.

Einerseits:

Das Publikum wird mit Namen und Porträts von Darstellern und Darstellerinnen ins Kino gelockt – teuer eingekauft und mit entsprechend grossem Aufwand unters Volk gebracht. Als Teil der Public-Relations gehen banalste Aussagen der Stars an die Medien, zur wunderbaren Zusammenarbeit mit dem Regisseur, zum Engagement aller Beteiligten an diesem wichtigen Film. (Allerdings wird oft zu wenig darauf geachtet, den Aussagen auch eine etwas persönliche Färbung zu geben; doch da die Texte ja mit den Fotos der Stars kombiniert sind, wird das schon authentisch wirken.)

Jedenfalls geben sich die Medien in der weltweiten Provinz gerne für das Herausstellen solcher Prominenz* her, um ihren Bezug zur Welt der grossen Kultur zu zeigen und sich auch etwas mit deren Glanz zu schmücken.

(*Als prominent gilt, was von den Medien veröffentlicht wird.)

Andrerseits:

Die Darsteller und Darstellerinnen haben gelernt, dass sie nur Rädchen in diesem Betrieb sind, immer unter dem Druck, dem ausgeklügelten Zusammenspiel mit der Kamera und der vorgesehenen Montage zu genügen, den immer anspruchsvoller angelegten Identifikations-Mechanismen, die dem Publikum ein möglichst starkes Gefühl des Dabeiseins in der Kino-Gegenwart vermitteln sollen.

Aber: Trotzdem ist immer wieder mal von Darstellern und Darstellerinnen zu hören, wie unbefriedigend es ist, wenn sie bei den Dreharbeiten für zehn Sekunden eine gewünschte Mimik, einen bestimmten Blick, ein Sätzchen abzuliefern haben – wie sehr sie es schätzen würden, Teil einer wirklichen Szene zu sein und nicht nur Material, aus dem eine Szene gebaut werden soll. Weil eine Realität des Spiels so selten ist, wünschen sich viele Schauspieler und Schauspielerinnen, wieder mal auf der Bühne zu stehen, wo sie nicht Opfer solcher Verwurstung sind – und viele erfüllen sich auch von Zeit zu Zeit diesen Wunsch. Bei solchen Gelegenheiten ist manchmal etwas von der Frustrationen ihrer Film-Praxis zu erfahren.

*     *     *

Die Realität vor der Kamera: Neben den üblichen Spielfilme, die Identifikationen anbieten, damit sich das Publikum in eine Art Kino-Abenteuer oder -Romanze hineinziehen lassen kann, entstehen auch Filme, die kürzere oder längere Momente in ihrer Dauer miterleben lassen, in denen die Kamera die Realität eines Geschehen in seiner ganzen Intensität festhält – die Realität der Dreharbeiten. (Wenn hier von 'Intensität' die Rede ist, muss wohl präzisiert werden, dass sie hier nicht mit 'Action' gleichgesetzt ist.)

Ohne dass ich die Filme nochmals gesehen hätte, wage ich doch die etwas zufällige Namen von Filmautoren des Fiktiven zu nennen, mit denen ich solche Film-Formen in Verbindung bringe:
Filme von Eric Rohmer, Bertrand Blier, Jim Jarmusch.
«Reisender Krieger» von Christian Schocher.
Nicht zu vergessen die eigenartigen und noch ausgeprägteren Filme von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet.

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Urs Graf

Notizen zur Filmästhetik



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