Marlies Graf, 1943-2020.

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Marlies Graf, 1943-2020.

Marlies Graf, 1943-2020.

(Marlies Graf Dätwyler)

1. Oktober 1943 – 12. Februar 2020.

Abdankung am 24. Februar 2020 in der Kapelle des Friedhofs Fluntern, Zürich.

Musik (Margrit Schenker und Valentin Vecellio).

Text Urs Graf:

Ich glaubte, ich könne einfach von Marlies erzählen, doch als ich ein paar Notizen gemacht hatte, merkte ich, dass ich auf das Papier angewiesen bin, um nicht die Fassung zu verlieren.

*     *     *

Ein Häuschen an einem Bach, am Rand von Aarburg. Der Vater von Marlies war Lithograf, ein engagierter Gewerkschafter.

Die Mutter war aus Deutschland. Es war Krieg, und sie war im Ort gar nicht gern gesehen.

*     *     *

Ein besonderes Vergnügen für das kleine Mädchen war, wenn es vom Vater zu einem Fussballmatch mitgenommen wurde, nach Aarau.

Spätere Erinnerungen an das Haus waren nicht denkbar ohne die Trauben im Garten und Rex, dem Schäferhund.

*     *     *

Marlies bekam Leukämie, war während einem halben Jahr im Spital, ein Bein in Gips. Sie wuchs in dieser Zeit, doch das Bein im Gips konnte nicht wachsen.

Marlies würde das ganze Leben Rückenprobleme haben.

*     *     *

Marlies hatte einen grossen Wunsch – die Kunstgewerbeschule.

Das kam aber nicht in Frage, weil der ältere Bruder René schon ein Studium machte.

Ein Kompromiss zu ihren künstlerischen Wünschen war eine Goldschmiede-Lehre.

*     *     *

Zürich. Marlies war selbständige Goldschmiedin. Doch das Entwerfen von Schmuckstücken war unbefriedigend, denn die Leute, die ihr nahestanden, konnten sich ihre Schmuckstücke nicht leisten (das Material, die Arbeitszeit). Und für die Leute vom Zürichberg wollte sie keine Schmuckstücke entwerfen.

Also machte sie Reparaturen und Ring-Anpassungen für Juwelierläden, frustrierende Arbeit und sehr schlecht bezahlt.

So servierte Marlies auch - im Jazz-Lokal Africana – war befreundet mit Musikern: mit Chris McGregor, Johnny Dyani, Dudu Pukwana – Dollar Brand (Abdullah Ibrahim). Unter den Schweizern vor allem mit Remo Rau.

*     *     *

Als Marlies und ich uns kennenlernten, hatte ich eben den Beruf des Grafikers aufgegeben und bei Turnus-Film angefangen, um Filme machen zu können.

Als wir 1967 zusammenziehen wollten und uns für eine Wohnung interessierten, behaupteten wir, verlobt zu sein und in der nächsten Zeit zu heiraten. Und wir heirateten (es war noch die Zeit des Konkubinat-Verbot im Kanton Zürich).

Am Tag der Heirat nahm mich ihr Vater zur Seite, sagte, ich müsse mich von Anfang an klar durchsetzen, müsse klarstellen, wer hier die Hosen anhat. Marlies sei ein Setzkopf.

Bei Turnus standen mir in der Freizeit Kamera und Montagetisch zu Verfügung. So konnten wir die ersten zwei Filme machen: «z.B. Uniformen» und «Isidor Huber und die Folgen».

Marlies machte die Tonaufnahmen, ich die Bilder. Montiert haben wir die Filme am Wochenende, draussen in Gutenswil.

Marlies arbeitete weiter für Bijouterien, um im Geschäft zu bleiben, doch das gab sie auf, als sie von Filmern für Regie-Assistenzen angefragt wurde.

Sie arbeitete mit Fritz Mäder,

dann mit Remo Legnazzi,

später mit Franz Reichle.

Und mit Peter von Gunten für den Spielfilm «Die Auslieferung».

Als Peter von einer Arbeitsgruppe an der Universität Zürich angefragt wurde, ob er die Regie eines Films über Ujamaa in Tansania übernehmen würde, musste er absagen, da er gerade vor den Dreharbeiten eines nächsten Films stand.

Er schlug Marlies für die Regie vor.

Text gelesen von Elisabeth Wandeler-Deck.

ZUM FILM «MAHEMBE».

1975 erschien in CINEMA 3/75 eine ausführliche Besprechung des Films von Béatrice Leuthold (heute Béatrice Michel Leuthold).

Eine Entwicklung von Menschen anstatt von Dingen.

Dar Morgen dämmert über Dar es Salaam, farbenprächtiger als bei uns. Sonst keine wesentlichen Unterschiede: Lastwagen auf einer Ausfallstrasse, Niemandsland der Vorstädte wie überall, hohe Leuchtstengel verbreiten fahles Licht, Menschen hasten zum nächsten Fabriktor. Die Kamera folgt nach in die Fabrik. Blick von oben in eine Halle. Frauen sortieren in endlosen Reihen Cashew-Nüsse. Ununterbrochen bewegen sich die Hände hin und her. Schnitt. Arbeiterinnen in Reih und Glied an Nussknacker-Maschinen. Nahaufnahme einer Arbeiterin. Im abgehackten Rhythmus der Maschine gehen die Hände auf-ab, auf-ab. Der Mensch als unvollkommenes Anhängsel einer Maschine. Schnitt. Blick in die Büroabteilung der gleichen Fabrik. Eine Sekretärin legt in Bewegungen, die in ihrer Gemächlichkeit einen harten Kontrast zur Hektik der Arbeiterinnen bilden, eine unwahrscheinlich grosse Anzahl Blätter Kohlepapier zwischen irgendwelche Formulare. Die Kamera bleibt beharrlich dabei. Noch ein Kohleblatt, noch eines. Die Sekretärin spannt den Stapel gekonnt-gelangweilt in die Schreibmaschine ein. Das Stadtzentrum von Dar es Salaam in einer Totalen, dazu aus dem Off ein Zitat von Nyerere: «Wir begünstigten eine Entwicklung von Dingen anstatt von Menschen» (1968).

Eine bessere Illustration zu seiner Aussage hätte sich Nyerere selbst wohl kaum wünschen können als diese Eingangsbilder, die für uns erschreckende Spiegelbilder unserer eigenen Zivilisation darstellen. Wir können uns überzeugen: die Kolonisatoren haben ganze Arbeit geleistet.

Ein weiteres Zitat Nyereres, das die Städter letztlich als Ausbeuter der Landbevölkerung bezeichnet, leitet über zum zentralen Thema des Films, dem spezifisch afrikanischen, ländlichen Sozialismus in Tansania. 44 Stunden Bahnfahrt liegt Mahembe von Dar es Salaam entfernt: der Stimmenwirrwarr des Grossstadtbahnhofs verstummt, zum dumpf schlagenden Rhythmus einer Trommel ziehen weite afrikanische Landschaften an uns vorüber: kahle flache Landstriche, dicht bewucherte stachelige Hügel. Kein Mensch, kein Tier, keine Folklore, sondern Landschaft im Urzustand, weder pathetisch, noch exotisch. Die Bilder besagen in aller Deutlichkeit, dass Tansania ein dünnbesiedeltes, wenig entwickeltes Agrarland ist.

Ankunft in Mahembe: ein zufälliger Blick zwischen Hütten hindurch auf ein Stück Grasland, streunende Hunde, eine unbeteiligt vorübergehende Frau. Mahembe scheinbar von aussen, im Grunde genommen bereits von innen gefilmt.

Ich habe die zehn ersten Minuten des Films mit allen Einzelheiten geschildert, weil sie mir bezeichnend scheinen für die Haltung der Autoren dem ganzen Projekt gegenüber. Es ist eine Haltung der Offenheit, Unvoreingenommenheit, der interessierten Teilnahme.

Weitere Ausschnitte aus dem Text:

Der Zuschauer erfährt nur das Nötigste aus der Theorie, aber umso mehr aus der Praxis. Er muss nur Augen und Ohren öffnen und er wird aus nahezu sämtlichen Lebens­bereichen Tansanias Information erhalten.

Was er sieht und hört, scheint oberflächlich betrachtet völlig unspektakulär, geht aber gerade dadurch unter die Haut.

Die Identifikation mit den schwarzen Bauern kommt wie von selbst zustande. Begriffe wie «Ujamaa» bedeuten für den Zuschauer nicht mehr nur wohlklingende Laute aus der tansanischen Staatsphilosophie, sie sind nachhaltig personifiziert in der Gestalt des Vorsitzenden, des Schreiners, Müllers, Lehrers, des Distriktsekretärs.

Die Leute in Mahembe formulieren ihre Ziele mit eindrücklicher Klarheit. Sie wissen genau, was sie nicht mehr wollen, nämlich die Zeit des Dunkels und des «Schlafens» unter Kaiser Wilhelm. Das Filmteam hat das neu erwachte afrikanische Bewusstsein auch hier eindrücklich festgehalten. Selbst die Kritik stammt nicht von den westlichen Kommentatoren, sie wird von den Dorfbewohnern selbst geübt.

Verschiedene Umstände haben die Entstehung des Films begünstigt. Die sichere, kluge Regiearbeit von Marlies Graf und ihr sorgfältiger Schnitt verleihen den Film als ganzes Einheit und unaufdringliche Glätte. Fritz E. Maeders Kameraarbeit verrät grosses Einfühlungsvermögen, wobei auch seine langjährige Afrika-Erfahrung dem Filmteam zusätzlich zugute kam.

Musik.

Text Urs Graf:

Eine kritische Auseinandersetzung mit Medien war zu dieser Zeit an den Schulen und Lehrerseminaren noch lange kein Thema.

Also haben sich einige Freunde zur Gruppe AV-Alternative zusammengetan, gaben unzählige Kurse, Filmanalysen und praktische Filmarbeit, damals S-8, später auch Video. Auch dabei waren Hanspeter Stalder und Vreni Gloor.

*     *     *

Ernst, der Vater von Marlies, wurde verbittert und fremdenfeindlich. (Ich habe nie begriffen, ob seine Frau Luise davon ausgeschlossen war.) Doch er wusste, wenn er über Politik zu sprechen begänne, würde Marlies sofort aufstehen und das Haus verlassen.

*     *     *

Marlies trat dem Filmkollektiv bei.

*     *     *

Nach 11 Jahren Ehe entschlossen wir uns für die Scheidung.

Konkret – beispielsweise: Marlies hat ausgerufen. Ich wartete bis das vorbei war. Also drohte sie, mich umzubringen. Ich habe auch das nicht ernst genommen.

Marlies behielt den Namen Graf bei, ohne einen Bindestrich zum Namen Dätwyler, um den Bezug zu ihrem Vater auszulöschen.

*     *     *

Als ich mitten in Dreharbeiten war, erzählte mir ein Kollege, dass er an der Uni Freiburg in einer Gruppe sei, die sich intensiv auf einen Film vorbereite - «Behinderte und Nichtbehinderte» nannten sie sich.

Ob ich jemanden für die Regie des Films empfehlen könne? Ich sagte, sie müssten Marlies kennenlernen. Sie hatte ja auch schon bei Fritz Mäders «Langzeitstudie über Mehrfach-Behinderte» mitgearbeitet.

Text gelesen von Elisabeth Wandeler-Deck.

ZUM FILM «BEHINDERTE LIEBE».

Auszüge aus einem Text von Peter Bichsel:

«Behinderte Liebe» hat all das, was wir uns unter «Dokumentarfilm» vorstellen, hinter sich gelassen. Er dokumentiert nicht, sondern er führt mit einem Hauch von Spielfilm Leben vor. ()

Was vorerst einmal gedacht war als die Darstellung von Sexualproblemen Invalider, das wird plötzlich zur Darstellung meiner eigenen Liebesunfähigkeit. Was für mich schon längst Sex heisst, heisst für sie - die Invaliden - immer noch Sexualität. Sexualität ist ein menschliches Bedürfnis, Sex ein Klischee. Die Hilflosigkeit gegenüber Invaliden ist meine Invalidität. Da nützt es nichts, die Natur als ungerecht zu erklären - gesellschaftliche Befreiungsmodelle scheitern. Nichts zu machen - kein Fazit, keine Lehre, keine Moral. Aber irgendwo bleibt die kleine Ahnung zurück, dass der Traum von der Befreiung vielleicht halt eben doch nicht an der Natur scheitert, sondern an unsern Klischees. ()

Eines scheint mir sicher: Hier macht nicht in erster Linie das Thema betroffen, sondern der Film, die Filmarbeit. Das ist eben nicht mehr ein Film «über», sondern das ist ein Film «von». Er spricht nicht über die Sache, sondern er handelt von der Sache und in der Sache. ()

«Behinderte Liebe» ist - man muss es banal sagen - ein Film über Liebe. Ich bin als Voyeur reingegangen und als Betroffener rausgekommen.

Musik.

Text Urs Graf.

"Behinderte Liebe" war ein Erfolg, verkaufte sich in viele Länder.

Und Marlies wurde in wichtige Festival-Jurys berufen. Stolz war sie darauf, dass sie in einer Jury die Auszeichnung eines besonderen Erstlings-Films durchgesetzt hatte – er war von Jim Jarmusch.

*     *     *

Im Filmkollektiv entschieden die Dokumentarfilmer, die nächste Zeit ohne Lohn zu arbeiten, um die Schulden aufzufangen, die bei der Produktion von «Les petites Fugues» entstanden waren. - Marlies übernahm die Produktionsarbeiten für den Film «Reisender Krieger» von Christian Schocher – unterwegs im Mittelland. Nach ihren Erzählungen müssen die Dreharbeiten etwas ganz Wunderbares gewesen sein.

*     *     *

Marlies montierte im Filmkollektiv die Filme von Lisa Faessler und Béatrice Michel. Es waren intensive Arbeiten, die sich über ein halbes Jahr erstreckten. Und die Autorinnen mussten erleben, dass sich Marlies ganz mit dem Film identifizierte, ihn auch gegen seine Autoren zu verteidigen suchte. Einfach war das nicht immer.

*     *     *

Ich wollte einen Film über Türken machen, die hier nach ihren Traditionen leben. Einen Zugang zum Bereich der Frauen wäre mir jedoch nicht möglich gewesen.

Ich sprach mit Marlies darüber. Sie sagte, dass sie gerne einen Film über die Frauen machen würde.

So entstand ein Film aus zwei Filmen - einem männlichen Blick auf die Welt der Männer und einem weiblichen Blick auf die Welt der Frauen.

Vor dem Ausarbeiten der Drehvorlage, hatten wir lange Reisen in der Türkei gemacht, um die Heimat der hier lebenden Türken kennenzulernen. Zurückgekehrt aus der Fremde hatten sich unsere Blicke verändert - das Gewohnte hatte seine Selbstverständlichkeit verloren. Im Text auf dem ersten Bild des Films (der Altstadt von Olten) ist davon die Rede:

«Fremde sind hierhergekommen –

an diesen Ort am Jurasüdfuss -

in dieses Land, wo neben den Gotteshäusern hohe Türme stehen,

mit Uhren, die 96 Mal im Tag schlagen und an die Zeit erinnern.

Hier wurden wir geboren, sind wir aufgewachsen,

hier sei unsere Heimat – sagt Idris.»

Text gelesen von Elisabeth Wandeler-Deck.

ZUM FILM «ŞERIAT». (TR7, 1992. Gespräch von Gerhart Waeger mit Marlies Graf zur Fernseh-Ausstrahlung des Films.)

Sinn für Hintergründe und Zusammenhänge.

Ausser ihren Filmen habe sie nichts Interessantes zu bieten, wehrte sie die Bitte nach einem Gespräch zunächst ab: Marlies Graf Dätwyler (49) macht keinen Unterschied zwischen Privat- und Berufsleben. Das Filmemachen ist zu einem Teil ihres Lebens geworden.

«Ich arbeite immer jahrelang an einem Film», sagt Marlies Graf Dätwyler. Dies ist nicht das einzige, was ihre Arbeiten von den üblichen Fernseh-Reportagen unterscheidet. In ihren Dokumentarfilmen - «Behinderte Liebe» ist beim breiten Publikum bisher wohl der bekannteste - geht es immer um Prozesse, in die sie auch sich selber einbringt. Obwohl sie für das Umfeld ihrer Filme sorgfältige Studien betreibt, liebt sie das Wort «Recherchen» nicht. «Dies wäre zu weit von mir weg», versucht sie dies zu erklären. «Ich gehe mehr aus mir heraus an ein Thema heran, als dass ich mir eine Aufgabe stellen würde.» Ihre Filmarbeit versteht sie als eine Art «Verdichtungsprozess», der naturgemäss sehr viel Zeit in Anspruch nimmt. Dies töne vielleicht etwas kompliziert, meint sie nachdenklich, dabei stelle sie an ihre Filme stets den Anspruch, so einfach wie möglich zu sein. Diese sorgfältig erarbeitete Ein­fachheit macht letztlich wohl auch deren Erfolg aus.

Wovon lebt eine Filmemacherin, die nur alle paar Jahre einen eigenen Film herausbringt? Die reichen Erfahrungen, die sie mit ihren eigenen Filmen und durch die Mitarbeit an Filmen von Kollegen erworben hat, macht Marlies Graf Dätwyler auch dem Nachwuchs zugänglich. Ab 1970 ist sie als Leiterin von medienpädagogischen Kursen hervorgetreten, 1979/80 unterrichtete sie an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg. Seit 1983 hat sie einen Lehrauftrag für Film an der ETH in Zürich, seit 1991 einen solchen für Dokumentarfilm an der Hochschule für Fernsehen und Film in München.

Auf die Frage, ob es für ihre Filme einen gemeinsamen Nenner gebe, sagt Marlies Graf Dätwyler: «Bei mir haben alle Filme etwas miteinander zu tun. Einer entwickelt sich aus dem andern heraus, auch wenn dies vordergründig vom Thema her nicht ersichtlich ist.» Gemeinsam sei ihren Filmen die Art, wie sie an sie herangehe. Letztlich gehe es ihr um eine «Suche nach dem Erfahren von Wirklichkeit», um das Bemühen, «hinter etwas zu kommen, was ich noch nicht weiss». Über sein eigentliches Thema hinaus zeigt «Şeriat» einen Weg, mit Fremdartigem (und mit Fremden) umzugehen.

Musik.

Text Urs Graf.

Marlies wollte die Begegnung mit dem Fremden weiter vertiefen. Sie hatte noch einmal Reisen in der Türkei gemacht, bis nach Erzurum, und in ländliche Gegenden von Thailand. Doch es hatte sich noch nichts ergeben, das zu einem Film werden wollte.

Aber von der Stadt Zürich erhielten wir überraschend den Auftrag, drei Filme für die Ausstellung zum Islamischen Alltag in Zürich zu machen – mit den hier lebenden Menschen aus der Türkei, aus Bosnien, aus Ägypten.

*     *     *

Die Kräfte von Marlies nahmen ab. Sie hatte schon lange Zöliakie, mit entsprechenden Mangelerscheinungen. Und sie hatte schon einige Rückenoperationen hinter sich.

Und nun die Diagnose 'Psoriasis Arthritis' – was in ihrem Fall geschwollene Gelenke und zunehmende Schmerzen bedeutete.

Und dazu kam die Sorge um René. Jahrelang kümmerte sie sich um ihren kranken Bruder, bis zu seinem Tod.

*     *     *

Marlies kam noch für kurze Zeit ins Filmkollektiv, wo ich den Film «Gute Tage» montierte, dessen Thematik ihr auch nahe war. Sie kam an einem Spazierstock, dann an einer Krücke. Doch auch sitzend war sie bald erschöpft.

*     *     *

Marlies wohnte an der Hammerstrasse im 4. Stock. Ihre Wege wurden immer kürzer. Bald reichte es nur noch bis zur nahen Apotheke. Und dann war ihr auch das nicht mehr möglich. In der Wohnung bewegte sie sich mühsam mit dem Rollstuhl.

Schon länger hatte ihr Sabine Mörgeli geholfen, nun wurde ihr Beitrag immer grösser, sie nahm Marlies all das ab, was sie nicht mehr bewältigen konnte – mehrmals in der Woche.

Und über den Roten Knopf am Handgelenk konnte Marlies Sabine oder mich zu Hilfe rufen, wenn sie wieder einmal hingefallen war.

Verrückt war, wenn sie hinfiel und nicht auf den Roten Knopf drückte, Stunden am Boden lag, weil ich sonst mitten in der Nacht aufgeweckt würde, mit den Auto hinfahren würde, um ihr aufzuhelfen.

Auch Spitex hatte zunehmend Hilfeleistungen übernommen. Die Spitex-Mitarbeiter machten auch Vorschläge, wann und auf welche Weise sie Marlies sonst noch helfen könnten.

*     *     *

Vor einem Jahr hatte Marlies starke Rückenschmerzen. Im Spital bekam sie Schmerzmittel, doch war klar, dass sie für eine Operation zu schwach war.

Nach zwei Wochen waren die Schmerzen zurückgegangen, doch sie würde durchgehend betreut werden müssen. Also wurde sie in das Pflegeheim Arkadia gebracht.

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Ich bekam den Eindruck, dass sie dort gut aufgenommen und betreut wurde.

Während des letzten Jahres haben Sabine und ich Marlies jede Woche besucht, an verschiedenen Tagen. Die Fragen und Anregungen, die sich aus meinen Gesprächen mit Marlies ergaben, wurden vom Personal ernst genommen.

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Gute Momente der Woche waren, wenn der Physiotherapeut ihre oft schmerzenden und verkrampften Glieder lockerte.

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Ich unterhielt mich mit Marlies über Filme und über das Weltgeschehen, auch über aktuelle Abstimmungen und Wahlen. Es störte sie, dass sie nichts zu erzählen hatte, weil hier ein Tag dem andern glich.

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Wenn niemand in der Nähe war, sagte sie mir: «Ich bin hässig – aber nur innerlich.»

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Und sie sagte: «Ich möchte sterben, nicht irgendwann, am liebsten jetzt. - Entschuldige, dass ich dich damit belaste.»

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An schönen Tagen fuhr ich sie mit dem Rollstuhl hinaus an die Sonne. Und jemand vom Personal machte mich darauf aufmerksam, wenn ich vergessen hatte, die Zigaretten von Marlies mitzunehmen.

*     *     *

Anfang dieses Jahres klagte sie oft über Schmerzen, wenn sie im Rollstuhl sass – sie musste hingelegt werden, und die Schmerzmittel wurden erhöht.

Anfangs Februar lag sie meistens auf dem Bett.

*     *     *

Montag-Mittag (10.2.2020). Ich bekam einen Anruf aus dem Pflegeheim. Man teilte mir mit, dass Marlies ins Spital gebracht worden sei. Lungenentzündung. Sie habe trotz des Sauerstoff-Geräts nicht mehr richtig atmen können und habe so klar auf dem Spital bestanden, dass sie sich nicht widersetzen konnten.

Ich fuhr zum Spital. Marlies war in der Notfall-Abteilung und man bemühte sich, ihr das Atmen leichter zu machen, die Schmerzen, den Stress.

Ich sagte Marlies, dass sie das gut gemacht habe bei Arkadia - hier seien viel bessere Möglichkeiten vorhanden, damit sie sich wohler fühle.

Den ganzen Nachmittag wurden sorgfältig Anpassungen von Dosierungen vorgenommen. Das Atmen schien Marlies nicht mehr schwer zu fallen. Sie wurde entspannter.

Gegen Abend kam eine neue Ärztin hinzu und stellte Marlies eine Frage. Marlies sagte etwas. Alle hörten genau hin und Marlies sagte es noch einmal – leise aber sehr bestimmt: «Schweigen!» Nun hatten alle verstanden. Und alle hielten sich daran.

Es war auch eine Pflegerin der Abteilung dabei, in die Marlies kommen würde. Man würde sie auch dort in Ruhe lassen.

Als Sabine und ich in den folgenden zwei Tagen bei Marlies waren, wurde sie ruhiger und ruhiger.

Marlies starb am Mittwoch, kurz vor Mitternacht.

Stille.

Musik.

Die Urne wurde im Gemeinschaftsgrab des Friedhofs Fluntern beigesetzt, wo auch die Urne ihres Bruders René ist.

Sabine Mörgeli las dort das Gedicht, das ihr Marlies Graf vor etwa sechs Jahren mit einem Gruss gesandt hatte.

Mascha Kaléko

Rezept

Jage die Ängste fort

Und die Angst vor den Ängsten.

Für die paar Jahre

Wird wohl alles noch reichen.

Das Brot im Kasten

Und der Anzug im Schrank.

Sage nicht mein.

Es ist dir alles geliehen.

Lebe auf Zeit und sieh,

Wie wenig du brauchst.

Richte dich ein.

Und halte den Koffer bereit.

Es ist wahr, was sie sagen:

Was kommen muß, kommt.

Geh dem Leid nicht entgegen.

Und ist es da,

Sieh ihm still ins Gesicht.

Es ist vergänglich wie Glück.

Erwarte nichts.

Und hüte besorgt dein Geheimnis.

Auch der Bruder verrät,

Geht es um dich oder ihn.

Den eignen Schatten nimm

Zum Weggefährten.

Feg deine Stube wohl.

Und tausche den Gruß mit dem Nachbarn.

Flicke heiter den Zaun

Und auch die Glocke am Tor.

Die Wunde in dir halte wach

Unter dem Dach im Einstweilen.

Zerreiß deine Pläne. Sei klug

Und halte dich an Wunder.

Sie sind lang schon verzeichnet

Im grossen Plan.

Jage die Ängste fort

Und die Angst vor den Ängsten.

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Urs Graf

Notizen zur Filmästhetik



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