Personen und Themen (1).
Annäherungen an das Film-Ende.

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Personen und Themen (1).
Annäherungen an das Film-Ende.

Personen und Themen (1).

Annäherungen an das Film-Ende.

Personen und ihr Bild.
Und die Thematik des Films.

Erfahrungen aus Filmkursen, von Filmgesprächen, Filmanalysen.

Protagonisten im Bild.

Wenn wir uns in einem Kurs mit einem Film befassten, ergab es sich immer wieder, dass Teilnehmer von einer Person des Films sprachen, als hätten sie diese real vor sich gehabt. Und sie waren nicht passive Konsumenten, sie waren höchst interessiert. Ihr Blick galt allen Details der Handlung, den Dialogen und dem, was in den Gesichtern zu sehen war. Doch gerade durch dieses Interesse geht man leicht darüber hinweg, dass man es mit zwei Dingen zu tun hat, mit dem abgebildeten Menschen in seiner Realität und der Art seiner Abbildung.

Der Bildausschnitt wird so unwichtig wie das Fenster, durch das wir jemanden sehen.

Filmbilder.

Durch die Montage des Films werden die Handlungen einer Person miteinander in Beziehung gebracht, doch gerade im Moment des Schnitts ist nicht zu übersehen, dass da zwei unterschiedliche Filmbilder aufeinandertreffen – Bilder aus verschiedenen Winkeln, Distanzen, anderer Hintergrund, anderes Licht (anderer Ort?).

Themen.

Zusätzlich zu den Bildern und Tönen hat der Film auch ein Thema, das sich nirgends konkret festmachen lässt, das sich aus dem Zusammenwirken all seiner Elemente ergibt.

Es gibt auch Filme mit Szenen, in denen ein Filmer seine Lebensweisheiten durch Handlungen, Aussagen, Kommentare auf den Punkt bringt – also Filme ohne den Reichtum und die Vielschichtigkeit, die ein intensives Hinschauen und Hinhören lohnen würden.

Zugang zum Film.

Wie können wir (in einem Kurs) Zugang zu einem Film finden, zu Personen und ihrem Handeln, den Formen der Darstellung, verborgenen Themen?

Bei der eindrücklichsten Szene? Da sind sich die Kursteilnehmer selten einig. Dazu kommt, dass das Eindrückliche meistens nicht in der Szene selbst zu finden ist; oft sind es bestimmte Zusammenhänge, die eine Szene eindrücklich machen, auch Elemente von Vorgeschichten, die weit zurückliegen können.

Gut wäre, einen Zugang zu finden, der sich auch bei einem nächsten Film bewähren könnte.

Der Anfang des Films.

Die ersten Szenen eines Films können uns Aufschluss geben über das, was zum Thema des Films werden könnte. Welche Bedeutung hat es für die filmische Erzählung, dass sie gerade hier einsetzt?

Banalität: Bei Spielfilmen ist Zuschauern oft nicht wirklich bewusst, dass es vor der ersten Einstellung keine Geschichte gibt, auch keine Personen. Der Spielfilm beginnt da, wo der Drehbuch-Schreiber eine erfundene Person handeln lässt.

In den ersten Minuten des Films kann nicht mit der Aufmerksamkeit des Publikums gerechnet werden. Kursteilnehmer haben sich an den Anfang der filmischen Erzählung erinnert, doch dies in einem sehr allgemeinen Sinn, ohne Erinnerung an das erste Bild. Manchmal lässt sich dieses im gemeinsamen Gespräch rekonstruieren. Doch vielen bleibt die Erinnerung verschlossen. War da ein Text, Musik, wie war der Bildausschnitt, liess sich ein Ort erahnen – gibt es überhaupt Erinnerungen an das Bild?

Bei einem Roman würde man sich nicht mit der Erinnerung an eine Handlung begnügen, sondern nach dem ersten Satz fragen. Schliesslich ist es Literatur, schliesslich sollte es um Sprache gehen. Ein tiefer gehender Gehalt entsteht aus der Form der Gestaltung.

Aus ihren Kino-Erfahrungen wissen die Kurteilnehmer, dass sie über die ersten Bilder des Films hinwegsehen können, das ist nur atmosphärische Einstimmung. Falls da doch etwas Wichtiges sein sollte, wird sich das schon klären. In den ersten Minuten ist man auf das Kommende ausgerichtet. Was könnte geschehen, wo könnte das hinführen? Die Gedanken richten sich so sehr auf das möglicherweise Kommende, dass die Gegenwart des ersten Bildes kaum wahrgenommen wird.

Am Telefon sagt man ein paar einleitende Worte, bevor man zum eigentlichen Sinn des Anrufs kommt. Der andere muss sich ja auf diese Stimme, auf diese Art des Redens einstellen.

Ich kenne das auch aus frustrierenden Gesprächen über meine Filme. Es nützte nichts, dass in den ersten Minuten des Films etwas Wichtiges gesagt worden war. Das Publikum hatte sich noch nicht auf den Film eingestellt, obschon es schon einige Zeit da sass, einige Werbefilme und zwei Vorschauen von kommenden Filmen gesehen hatte.

Das Ende des Films.

Es ist einfacher, den Zugang zu einem Film von dessen Ende her zu finden. Nach der letzten Einstellung kommt nichts mehr, das die Erinnerung zudecken könnte. Die letzte Szene des Films bleibt präsent, oft auch das letzte Bild, der Dialog, manchmal die Musik (nur fehlen dafür meist die Worte), vielleicht auch der Schnitt zu dieser Einstellung und der Schnitt am Ende der Szene, oder eine Abblendung, eine Überblendung? Das letzte Bild des Films – einen Moment lang Gegenwart. Und auch Erinnerungen, wie es zu dieser Situation, zu diesem Schlussbild kam.

Nach dem Schlussbild wird man in Ruhe gelassen, hört während der drei Minuten des Nachspanns Filmmusik (die die eingeplanten Gefühle noch etwas verlängern soll). Die Produzenten wissen, dass die Text-Masse von Funktionen und Namen nicht stören wird, sie sind ja auch nur da, weil das in den Mitarbeiterverträgen vereinbart wurde.

Entwicklung zum Ende hin.

Ich gehe davon aus, dass nicht nur das letzte Bild präsent ist, sondern auch Erinnerung an die Szenen, die zu diesem Bild führten. Wenn wir uns auf diese einlassen, können uns Entwicklungen zugänglich werden und damit verbundene Bedeutungen. So beginnen – neben dem oberflächlichen Geschehen – Themen des Films hervorzutreten.

Nichts gegen das Oberflächliche von Filmen; die Oberfläche ist das Sichtbare, das Sinnliche, das was in Bildern (und Tönen) wahrnehmbar ist, das Wesen des 'Filmischen'.

Was wir im Kino als relativ geradlinige Erzählung erlebt haben, verliert seine Selbstverständlichkeit, wenn wir es vom Ende her betrachten, der Bau des Films tritt hervor. Wenn wir uns der Logik dieser eingängigen Form widersetzen, nach anderen Bezügen zwischen den Sequenzen fragen, nach Gemeinsamkeiten und nach Widersprüchen, dann können Themen hervortreten, die im Film nirgends als Thema erschienen sind.

Meine Filme sind nicht von ihrem Ende her aufgebaut, auch nicht chronologisch. Sie entstehen eher wie ein Mosaik, Stein für Stein dazugefügt, mit ihren Bedeutungen, ihren Bezügen (inklusive der Chronologie). Im Nachhinein lässt sich ergründen, welchen Sinn es macht, wenn ein Stein gerade da einen Platz gefunden hat, wie er mit dem Ende des Films verbunden ist, ob eine Thematik dadurch hervortritt.

Siehe Text «Personen und Themen (2).»

Wie meine Filme zu ihrem Ende kommen.
«Şeriat», «Kollegen», «Wege und Mauern»,
«Die Zeit mit Kathrin», «Gute Tage».

PS:

Welche Art von Beziehungen können Protagonisten und Themen zueinander haben?

Filmische Formen -
Protagonisten und Themen.

Dabeisein, miterleben.

Filme in denen ein Gleichgewicht herrscht zwischen dem Interesse an einer Person und einer Thematik.

Filme, in denen das Interesse für die Person im Vordergrund steht, und durch sie hindurch immer wieder andere Aspekte einer Thematik erhellt werden.

1978 «Cinéma mort ou vif?» UG mit Hans Stürm, Mathias Knauer.

Alain Tanner, seine Anliegen, deren Realisierung.

1982 «Wege und Mauern» UG.

Jo Betschart, Strafgefangener. Paul Seiler Gefängnis-Aufseher.

Das Gefängnis-System.

1987 «Etwas anderes».

«E.» ein anonymer Alkoholiker, 'trocken' bleiben.

1991 «Şeriat» UG mit Marlies Graf Dätwyler.

Familie Tütüncü. In der Schweiz lebende muslimische Türken – die Welt der Männer, die Welt der Frauen.

2001 «Islamischer Alltag in Zürich» UG mit Marlies Graf Dätwyler (3 Kurzfilme).

Djula Hasic aus Tuzla, Bosnien, «Fastenmonat Ramadan».

Mohamed Abdel Aziz aus Alexandra, Ägypten. «Hadsch, Pilgerreise».

Fatih Dursun aus Konya, Türkei. «Gebet».

Lernprozesse.

Filme in denen der Autor mit den Protagonisten das Geschehen reflektiert.

1979 «Kollegen».

Peter Hodel, ein junger Gewerkschafter. Seine Auseinandersetzungen mit Kollegen und seiner Gewerkschaft. Ein Lernprozess. Über ein Jahr, ein Anderer werden.

1999 «Die Zeit mit Kathrin».

Katharina Bohny während der vier Jahre der Schauspielausbildung. Gleichzeitig auch das Erforschen von Frauenrollen, Konventionen und Ideale. Über vier Jahre, eine Andere werden.

Miterleben wie ein Werk entsteht – ins Unbekannte.

Der Filmer ist dabei, wenn künstlerische Werke entstehen. Ein gemeinsames Unternehmen, an dem beide gleichermassen interessiert sind.

Die Filmreihe «Ins Unbekannte der Musik»:

2005 «Urs Peter Schneider: 36 Existenzen».

Urs Peter Schneider, Komponist. Miterleben wie ein Musikstück entsteht.

2007 «Jürg Frey: Unhörbare Zeit».

Jürg Frey, Komponist. Miterleben wie ein Musikstück entsteht.

2010 «Annette Schmucki: Hagel und Haut».

Annette Schmucki, Komponistin. Miterleben wie ein Musikstück entsteht.

2017 «Gute Tage».

Fünf Bildende Künstler suchen nach der Krise einer Krankheit andere Möglichkeiten des künstlerischen Ausdrucks, immer wieder von neuem.

Kritik am Film im Film.

Keine Gattung, nur ein unübliches Konzept.

1973 «Berufe beim Zoll».

Ein Film, der sich fast objektiv gibt, den aber die Protagonisten zu sehen bekommen. Ihre Kritiken in den Film aufgenommen.

Eine Person, kein Thema (oder ein Thema das zum Vornherein da ist, nicht vertieft werden muss).

Es gibt Filme, die sich so stark auf eine Person einlassen, dass bei mir keine Frage nach einem Thema aufkommt. Ihre Qualität ist, dass sie kein Thema haben, dass ihnen diese Person, diese Begegnung genügt. Filme die durch ihre ausserordentliche Offenheit beeindrucken.

Filme die mir dazu einfallen:

1966 «Herman Slobbe» (29 Min.) Johan van der Keuken.

Ein blinder Knabe.

2005 «Sviato» (5 Min.) Viktor Kossakovski.

Der zweijährige Sohn des Filmers begegnet seinem Bild im Spiegel.

Wäre ein beispielhafter Film zu diesem Kapitel, wenn da nicht das  symbolistische Bild als Prolog und Epilog gesetzt wäre. Und eine einführende Texttafel zum Thema Spiegelbild.

1995 «Anna, 6 bis 18» (100 Min.) Nikita Mikhalkov.

Anna, die Tochter von Mikhalkov. Von sechs bis achtzehn Jahre. Er stellt ihr Jahr für Jahr dieselben fünf Fragen: Wovor hast du Angst? Nach was hast du Lust? Was verabscheust du am meisten? Was liebst du über alles? Was erwartest du vom Leben?

2002 «Tishe» (80 Min.) Viktor Kossakovski.

Blick aus einem Fenster in St. Petersburg. Strassenarbeiten und dahinter zu vermutende Bürokratie.

1984 «Il Baccio di Tosca» (87 Min.) Daniel Schmid.

Ein Film, der auf Personen des Opern-SängerInnen-Altersheim in Mailand eingeht – manchmal sprechen sie – doch immer wieder singen sie eine ihrer Arien. Ihre Äusserungen sind von einer solchen Selbstverständlichkeit, dass kein Film-Thema zu erahnen ist, das der Autor an sie herangetragen haben könnte.

Als Ganzes sicher Werbung für solche Heime.

1970 «Nur leichte Kämpfe im Raum Da Nang» (44 Min.) Hans-Dieter Grabe.

Was auf einem Lazarttschiff während des Vietnam-Krieges geschieht.

*     *     *

Auch Filme von Klaus Wildenhahn. von Michael Pilz.

Eine besondere Art von Reiseberichten:

1979 «Geschichte der Nacht» (63 Min.) Clemens Klopfenstein.

Nachts: Unterwegs mit Zügen in Europa, in Städten. Keine Protagonisten, kein Thema.

Die Fernsehreihe «Gerstls Reisen».

In Deutschland mit dem Auto unterwegs. Gerstls interessiert sich für die Menschen, auf die er trifft, wenn die Filmequipe irgendwo anhält, Themen ergeben sich (die Begegnungen sind wohl nicht so zufällig, wie sie im Film erscheinen).

Spielfilme mit einer solch thematischen Offenheit.

Die frühen Filme von John Cassavetes.

1981 «Reisender Krieger» (195 Min. / 2015 kürzere Version 142 Min.) Christian Schocher.

Ein Spielfilm mit einer Hauptfigur und einer durchgehenden Handlung, jedoch in den einzelnen Szenen von einer immer wieder überraschenden Offenheit.

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Urs Graf

Notizen zur Filmästhetik



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