Russian endings / American endings.
Alexander Kluge im Buch «Geschichten vom Kino», Suhrkamp 2007 (Einleitung des Textes).
Im Scheunenviertel im Osten Berlins mietete 1921, während der NEP -Politik*, der Unternehmer Wladislaw Leschtschenko, Bruder des bekannten Tangokönigs, mehrere der kleindimensionierten Wohnungen samt Kellern. Er liess die Brandmauern durchbrechen, so dass sich Wohnungen zu einem Filmatelier formierten. In einer solchen SCHNEIDEREI spezialisierte er sich auf die Umarbeitung russischer Filme für den Export in die USA und von amerikanischen Streifen zur Auswertung im Grossen Russland. Steuern zahlte er nicht.
Zahlreiche künftige Stars der Ufa lernten ihr Metier in dieser dramaturgischen Schleuse. Ein Leschtschenko-Schnitt gilt in der Filmgeschichte als besondere Rarität. Die Filme gelten nicht als edel, und sie vermitteln nicht in der manierierten Art Eisensteins zwischen Längen und Kürzen. Sie sind robust und brauchbar.
Russische Filme, das begrenzte sich nicht auf die wenigen Werke der REVOLUTIONÄREN EPOCHE, sondern umfasste das Erbe an Melodramen, Tragödien und Liebesfilmen aus der Zeit vor 1917. Alle zeigten sie, der Mode folgend, ein schwermütiges, unglückliches Ende. Für den Export in die USA benötigten sie ein Happy-End, das sich logisch aus der Haupthandlung zu entwickeln hatte.
In Russland dagegen waren amerikanische Filme beliebt, nicht aber ihr oft leichtsinniges Happy-End. Kein Zensor versperrte den Markt, aber es wäre unmöglich gewesen, gegen den Trend des Publikums Filme in den Weiten des Landes durchzusetzen. Wo in einem russischen Melodrama die Brüder und Schwestern erschlagen daliegen, muss in dem amerikanischen ending ein Retter auftauchen, der in letzter Minute die Verbrecher verjagt. Retter, Brüder und Schwestern begrüssen einander. Wo in einem amerikanischen ending im Finale Heiterkeit aufkommt, muss für den russischen Vertrieb ein Filmteil angehängt werden, der nach dem Happy-End den grausamen Schlussstrich setzt, der die Tränen fliessen lässt.
*NEP, Abk. für Nowaja Ekonomitscheskaja Politika, dt. «Neue Ökonomische Politik», 1921 von Lenin eingeführtes Wirtschaftsprogramm.
Dies der Anfang des Textes aus "Geschichten vom Kino" von Alexander Kluge, Surkamp 2007.
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Ein weiterer Kommentar von Alexander Kluge zu diesem Thema findet sich im Gespräch mit Gabriele Voss. in deren Buch "Schnitte in Raum und Zeit", 2006, Vorwerk, Berlin.
Der russische Film kommt mit Stoffen von Puschkin, aus dem russischen Melodram und ist dadurch sehr viel ernsthafter. Es mag sein, dass ich auf einem derart grossen Kontinent, auf dem Rücken des Behemoth gewissermassen, von einem Ort nicht weg kann. Ich kann den Problemen nicht wie Odysseus über die See entfliehen. Ich komme im höchsten Fall in die Bezirksstadt, und da ist es genauso provinziell wie bei mir zu Hause, und ich werde partout nicht adelig. Ich bin Bauer oder ich bin Städter und werde, ob Tellerwäscher oder nicht, niemals Millionär im grossen Russland. Das fordert, dass meine Trauer Anerkennung findet. Und deswegen fühle ich mich belogen durch ein Happy-End. Und möchte dann wenigstens im Kino mit allen anderen zusammen mein Elend gespiegelt haben, und das tröstet mich. Die Schauspielerin, mir das vorführt, ist schön. Ich kriege, obwohl ich nicht adelig werde, obwohl ich nicht aufsteigen kann, im Kino doch ein Vorbild, das meine Leiden mitträgt.
In Amerika ganz anders. Da kommen Arbeitsemigranten, die diesem Elend in Europa entkommen sind. Da ist es jetzt schwer, sich zu verständigen. Ich beherrsche die Sprache nicht. Ich komme in ganz neue Verhältnisse. Ich habe Heimweh. Und jetzt möchte ich dazu nicht noch ein trauriges Ende aufgehäuft bekommen. Und deswegen will ich dort ein Happy-End haben. Insofern sind kollektive Interessen durchaus wie gespiegelt in diesen Massenprodukten zu finden.